Unsere Sicht auf den Zweiten Weltkrieg ist eine Europa-zentrierte: Polen-Feldzug, Überfall auf Westeuropa, danach auf die Sowjetunion. Natürlich wissen wir, dass auch in Nordafrika und in Asien gekämpft wurde, aber die Bedeutung dieser Weltregionen für den Krieg entzieht sich unserem Bewusstsein meist angesichts des überwältigenden Geschehens und der Gräuel in Europa.
Ost- und Nordafrika, Nahost, Asien
Wenn der deutsch-israelische Historiker Dan Diner sich eines Themas annimmt, dann wählt er meist einen anderen Blickwinkel als den gewohnten. So auch in seinem neusten Buch, das er dem zweiten Weltkrieg widmet. Er nennt es «Ein anderer Krieg» und zeigt im Untertitel, worum es ihm geht: Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935–1942.
Schon diese Jahreszahlen weichen vom gewohnten Zeitraum ab. Wieso 1935? Wieso 1942? Das hängt mit den Territorien zusammen, die Diner in den Fokus nimmt. Es sind Ost- und Nordafrika, der Nahe Osten und Asien, deren Rolle im zweiten Weltkrieg Diner nicht nur untersucht, sondern auch zu unterstreichen sucht. Das ist der grosse Krieg.
Der kleine Krieg
Der kleine Krieg – die beiden unterscheidet der Autor – ist jener um Palästina, zwischen Arabern, Juden und Briten, der Mandatsmacht. Dass es da mehr Zusammenhänge gibt, als wir gemeinhin zu wissen glauben, das macht das Faszinierende dieser Lektüre aus.
Die Klammer ist der weltumspannende Krieg, in den das britische Empire verwickelt war, auch wenn es nach dem Rückzug aus Dünkirchen 1940 zunächst nicht mehr mit Bodentruppen in Zentraleuropa kämpfte. Der britische Krieg gegen die Achsenmächte fand andernorts statt. Diner blickt von Süden nach Norden, mit dem Indischen Ozean als Drehscheibe aller britischen Kriegsanstrengungen.
Abessinienkrieg als Ausgangspunkt
1935, das war das Jahr, als Italien in Abessinien einfiel, also in unmittelbarer Nähe der britischen Standorte in Ägypten und Ostafrika. Italien hegte Grossmachtpläne, via Abessinien und Libyen bis nach Ägypten vorzudringen. Diesen Abessinienkrieg nimmt Diner zum Ausgangspunkt, die Entwicklung britischer Präsenz und Interessen im ganzen nahöstlichen Raum, in Nordafrika, am Roten Meer, und vor allem bis nach Indien zu zeigen. So befasst sich Diner einlässlich mit Italien als Verbündetem Deutschlands in diesem Krieg – auch das etwas, was sonst wenig Beachtung findet, aber in dieser Region und auf dem Balkan eben von grosser Bedeutung war. In Libyen und Ostafrika waren die Briten seit 1940 in Kämpfe mit Italien verstrickt.
Auf 1935 fiel auch der Beginn des grossen, dreijährigen, vor allem antibritischen Aufstand in Palästina. Es war der Aufstand der Palästinenser gegen die Mandatsmacht und gegen die jüdische Einwanderung auf ihrem Territorium, die in den dreissiger Jahren anwuchs. Zwar schlugen die Briten den Aufstand schliesslich nieder und sie schränkten die jüdische Einwanderung nun nach Kräften ein, aber der Konflikt im Lande blieb und führte schliesslich zur Staatsgründung Israels.
Kriegslogistik – ein entscheidender Faktor
Auch das Jahr 1942, das Diner im Titel nennt, war inmitten des Krieges von zentraler Bedeutung sowohl für die Kriegslage insgesamt wie auch für Palästina, insbesondere die dort lebenden Juden. War 1942 noch das Jahr der grössten Ausdehnung deutscher Truppen, zeichnete sich mit der entscheidenden deutschen Niederlage im ägyptischen El Alamein im November 1942 der Anfang vom Ende Nazideutschlands ein. Die britischen Truppen waren damals zwar noch in einem so schlechten Zustand, dass mit diesem Sieg Feldmarschall Montgomerys zunächst nicht zu rechnen war.
Entscheidend für den Sieg war dann, dass die USA die Briten auf dem Seeweg mit Nachschub versorgen konnten, nachdem sie 1942 in Nordafrika gelandet waren. Dies, nebenher gesagt, ist nur ein Beispiel von vielen, welche zentrale Bedeutung die Kriegslogistik innehatte, wozu eben auch gehörte, wo welche Waffensysteme gebraucht wurden und wohin sie verschoben werden mussten. Ein wiederkehrendes und höchst informatives Thema in dem Buch. Eindrücklich beschreibt Diner gleichzeitig die tiefsitzende Angst der Juden Palästinas vor einem Sieg NS-Deutschlands in Nordafrika und einem Vormarsch Feldmarschall Rommels bis nach Palästina: das Ende der jüdischen Gemeinschaft in Palästina und des ganzen zionistischen Projekts.
Münchner Abkommen und Palästina
Die Stärke und Charakteristik von Diners Darstellung liegt in den kleinen wie in den grossen Zusammenhängen – und wie sie den Krieg auf dem europäischen Festland auch vom Rande her beeinflussten. Im Zentrum steht britische Kriegsführung, das ganz grosse Bild also bis in das ferne China und Japan, die militärischen Zwänge und Erfordernisse, die politischen Abwägungen, Stärken, Schwächen, Bedrohungen und Siege. Und als Mandatsmacht Palästinas beeinflusste Grossbritannien die Entwicklung dort von oberster Stelle.
Wie beispielsweise hing das Münchner Abkommen von 1938 mit Palästina zusammen? Es liess den Briten zunächst genügend Truppen, die es nicht in Europa brauchte, den arabischen Aufstand in Palästina niederzuschlagen. Was wiederum die Sympathien der Palästinenser für Deutschland und Italien wachsen liess.
Palästina war indes nicht nur ein Ort mit lokalen Problemen. In Indien lebte die grösste muslimische Gemeinschaft in einem einzelnen Staat, und auf deren Interessen mussten die Briten immer wieder Rücksicht nehmen. Indische Muslime etwa verfolgten genau, was mit ihren Brüdern in Palästina unter britischem Mandat geschah. Was wiederum die Briten mit veranlasste, die jüdische Einwanderung so gut es ging, später auch mit Gewalt, einzuschränken. Die Palästinafrage war eben auch damals schon eine pan-muslimische.
Irakisches Öl und die Landbrücke nach Indien
Aber auch: In Haifa endete die für die Briten zentrale Pipeline aus dem Irak, die sie für die Verbindung vom Mittelmeer nach Indien brauchten. Ja, die ganze Kriegsplanung beruhte auf irakischem Öl und einer Landbrücke nach Indien, für die «imperial defense». Somit erklären sich auch erst italienische und dann deutsche Luftangriffe auf Haifa und auf Tel Aviv 1940/41. Das waren Vergeltungsschläge für britische Angriffe auf die italienisch besetzte Dodekanes. 1941, nach ihrem Einmarsch in Griechenland, bombardierten deutsche Flieger ebenfalls Haifa, als Vergeltung für Angriffe von Briten, Australiern und freien Franzosen auf Vichy-Kräfte in Syrien. Diese deutschen Angriffe hörten auf, als die Wehrmacht im Zuge von «Barbarossa» die Flugzeuge in der Sowjetunion brauchte. Auch dies ein Beispiel von vielen für Vorgänge im Zweiten Weltkrieg, die kaum in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen sind.
Waffen-Nachschub für die Sowjetunion
Der Einmarsch der Wehrmacht in der Sowjetunion im Juni 1941 hatte eine entscheidende Veränderung auch im Mittleren Osten zur Folge. Sowjetische und britische Truppen als neue strategische Alliierte besetzten den Iran. In diesem «persischen Korridor» etablierten sie schliesslich die «kontinentale Lebensader der Anti-Hitler-Koalition» (Diner). Die anderen beiden grossen Nachschub-Ströme liefen über das Nordmeer nach Murmansk und über den Pazifik nach Wladiwostok. Mit dem Nachschub über den Kaukasus, den vor allem die USA lieferten, konnten die sowjetischen Kräfte vom Verteidigungs- zum Angriffskrieg gegen die Wehrmacht übergehen.
Die Wehrmacht war diesen gigantischen Mengen an Nachschub nicht mehr gewachsen. Und wenn sie noch genügend Ölreserven hatte, konnte sie sie in den Weiten Russlands nicht mehr zu den Truppen transportieren. Für die iranische Zivilbevölkerung aber hatte diese Besetzung teils verheerende Folgen in Gestalt von Hunger, weil die normale Versorgung zusammenbrach.
Das Schicksal der «Bagdad-Juden»
Ein besonderes Gewicht legt Diner auf das Schicksal der Juden im Mittelmeer- und nahöstlichen Raum, über Palästina hinaus. Ein Beispiel sind jene des Irak, genauer Bagdads. Hier lebten Juden seit 2600 Jahren. Sie schauten, anders als die Juden Europas und Palästinas, nach Asien und waren eng mit dem Empire verbunden. Namen wie Sassoon oder Kadoorie zeugen von Juden, die in China tätig waren und die man dort «Bagdad-Juden» nannte. Ihr Ende im Irak begann 1941 mit einem schrecklichen Pogrom, «Farhud» genannt, das nationalistische prodeutsche Iraker nach der Kapitulation vor den Briten an jüdischen Bagdadern begingen. Die Briten schauten einfach zu. Das Ende der jüdischen Geschichte im Irak kam nach der Staatsgründung Israels, wohin die verbleibenden Juden emigrierten.
Ausführlich beschäftigt sich Diner mit jüdischen Teilnehmern am Weltkrieg, einmal in der jüdischen Brigade innerhalb der britischen Streitkräfte, und dann in der Anders-Armee, die sich in der Sowjetunion aus geflohenen jüdischen wie nicht-jüdischen Polen zusammensetzte. Ausserdem kämpften Mitglieder der Haganah, der vorstaatlichen jüdischen Streitkräfte, auf britischer Seite in Nahost mit. Unter ihnen war beispielsweise Moshe Dayan, der in Syrien im Kampf gegen Vichy-Franzosen sein Auge verlor. Die Anders-Armee wurde 1942 via Iran in den Nahen Osten verlegt und dem britischen Oberkommando unterstellt. Zusammen bildeten diese ausländischen Kräfte das grösste britische Militärkontingent ausserhalb der Commonwealth-Truppen.
Für Diner ist dieses Faktum deshalb so bemerkenswert, weil hier polnische, britische, sowjetische und jüdische Interessen zusammentrafen (oder auch auseinanderstrebten). 3000 jüdische Mitglieder der Anders-Armee desertierten schliesslich nach Palästina. Vor ihnen war schon der spätere Premierminister Menachem Begin als Korporal in der Anders-Armee nach Palästina gelangt, auf regulärem Weg. In Palästina aber ging er 1943 in den Untergrund und kämpfte als Kommandant der Irgun gegen die Briten. Die Sorge der Briten war gewesen, dass jüdische Anders-Soldaten in Palästina dann eigene Streitkräfte bilden würden, schon einen eigenen Staat im Blick. Standen die Juden Palästinas mit Beginn des Kriegs vor dem Dilemma, einerseits auf britischer Seite gegen die Nazis zu kämpfen, andererseits die Briten als Mandatsmacht zu erleben, die die jüdische Einwanderung strikt limitierte bis verhinderte, verloren sie ab 1943 tatsächlich das Interesse, noch mit aller Kraft im «grossen» Krieg für die Briten zu kämpfen.
Die Verantwortung für die Hungerkatastrophe in Bengalen
Diner hat die Wege jüdischer Soldaten genauer verfolgt, als das sonst europäische Historiker tun. Nur bei ihm liest man, dass jüdische Soldaten aus unterschiedlichen Einheiten mehrfach aufeinanderstiessen in diesem grossen Krieg. Ein Beispiel ist Italien, wo die jüdische Brigade Seite an Seite mit der Anders-Armee in der Schlacht um Montecassino kämpften. Hier trafen sich mitunter sogar Familienmitglieder wieder.
Eine besondere und besonders erschütternde Episode in dem Buch ist das Aufeinandertreffen von Kriegsgefangenen aus der Jüdischen Brigade mit Häftlingen aus Auschwitz. Das war in Schlesien, in der Nähe von Auschwitz, wo sie beide Zwangsarbeit verrichten mussten und wo gefangene Soldaten unter den Auschwitz-Häftlingen Verwandte entdeckten. Der «existentielle Unterschied» war der, dass die jüdischen Kriegsgefangenen durch ihren Kombattantenstatus nicht mit dem Tod bedroht waren. Aber auch, weil sie britische Kriegsgefangene waren. Sowjetische Kriegsgefangene brachten die Deutschen bekanntermassen zu Millionen um, durch Hunger, Krankheit, Arbeit.
Auf eine weitere, erschütternde und kaum wahrgenommene Tatsache weist Diner ebenfalls hin. Im Krieg gegen Japan richteten die Briten im indischen Bengalen eine Hungersnot an, weil sie die Lebensgrundlage der Menschen zerstörten. Sie sollten nicht den Japanern dienen, etwa mit Booten als Transportmittel. Dreieinhalb Millionen Bengalen kamen um, von denen nirgends die Rede ist, wenn man vom Zweiten Weltkrieg spricht. Viel zu wenige Hilfsschiffe wurden schliesslich aus Australien losgeschickt, denn Schiffe wurden jetzt gebraucht für die bevorstehende Invasion in der Normandie. Auch das einer der grossen Zusammenhänge, wie sie Diner so zahlreich erläutert.
Dan Diner: Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der zweite Weltkrieg, 1935–1942. DVA 2021,346 S., Fr. 51,90.