Die Zweideutigkeiten, die bewirken, dass letztlich unklar bleibt, wer an dem Waffenstill teilhat und wer trotz ihm bekämpft werden kann, erlauben es den Regierungskräften und ihren Verbündeten, zu denen auch die Russen gehören, dort zu kämpfen, wo es in ihr taktisches Konzept passt und dort die Einhaltung des Waffenstillstands zu fordern, wo es für sie unzweckmässig ist, zu kämpfen.
Nusra und verbündete Kampfgruppen
Dies stellt einen gewaltigen Vorteil für eine Kriegsmacht dar, deren Hauptschwäche darin liegt, dass sie nicht genügend Truppen besitzt, um das ganze Land Syrien flächendeckend zu kontrollieren.
Die erwähnten Zweideutigkeiten beruhen erstens darauf, dass der IS und die Nusra-Front von dem Waffenstillstand ausgenommen sind und daher weiter legitime Kriegsziele darstellen. Doch damit nicht genug: Zweitens ist es der Fall, dass zahlreiche Rebellengruppen und gerade die bestausgerüsteten und kampfestüchtigsten von ihnen, in engem Verband mit Nusra kämpfen. Dies besonders im Norden Syriens an den Fronten in Aleppo und in der Provinz Idlib, die von Nusra und ihren Verbündeten gehalten wird.
Die Rebellen benötigen die Offensive
Nusra und der IS warten nicht darauf, von der syrischen Armee, ihren Verbündeten und den im Waffenstillstand mit diesen Kräften stehenden Rebellengruppen, soweit sie Feinde von IS oder von Nusra sind, angegriffen zu werden. Sie suchen ihrerseits die Offensive aufrecht zu erhalten und greifen dort an, wo sie die besten Möglichkeiten zum Vordringen sehen.
Dadurch stellen Nusra und IS die ihnen nahestehenden Rebellengruppen vor ein Dilemma. Einerseits sind diese mit ihnen verbündet gegen das Regime und dessen Helfern. Sie möchten lieber dem IS und Nusra helfen als dem Regime. Doch andrerseits stehen sie im Waffenstillstand mit dem Regime und seinen russischen sowie iranischen Helfern - gerade den Kräften, die sie als ihre Hauptgegner einstufen.
Nusra gegen den IS und gegen Asad
Dazu kommen noch als zusätzliche Wirrungen die Spannungen zwischen Nusra-Front und dem IS, die sich gelegentlich bis zu Kämpfen zwischen den beiden steigern und damit auch zu Kämpfen zwischen den mit Nusra verbündeten Rebellengruppen und dem IS führen können. Dies besonders im Raum rund um Aleppo, wo der IS versucht von Osten her nach Westen vorzurücken und dabei auf Widerstand der Kräfte stösst, die sich in den verschiedenen Ortschaften festgesetzt haben.
Dies können kleinere oder grössere Rebellengruppen sein, mit der Nusra Front mehr oder weniger eng verbunden, aber auch Kurden, und auch Truppen der Asad Streitkräfte mit oder ohne russische oder iranische Berater und Spezialisten.
Spaltung und den Gegnern Asads
Die Unklarheiten über die jeweilige Position der unterschiedlichen Gruppen führt dazu, dass das Misstrauen der verschiedenen Feinde Asads gegeneinander noch weiter wächst. Es gibt vereinfacht gesagt unter den Gegnern Asads drei Positionen: IS gegen alle anderen; Nusra gegen IS und gegen Asad; die Verbündeten Nusras gegen den IS und gegen Asad aber im Waffenstillstand mit Asad.
Regierungsoffensive gegen Aleppo
Da Asad - wahrscheinlich in Absprache mit den Russen - nun darauf ausgeht, Aleppo wieder unter seine Herrschaft zu bringen, hat die syrische Luftwaffe wieder begonnen, die östliche Hälfte der Grossstadt, die von zahlreichen Rebellengruppen und von Nusra gehalten wird und
die dort verbliebenen 300 000 Zivilisten zu bombardieren. Damaskus kann behaupten, dies sei kein Bruch des Waffenstillstands, da es ja gegen Nusra und deren Verbündete gehe.
Nach den Aussagen anonymer amerikanischer Militärs sollen die Russen ihrerseits Artillerie im Umfeld der Stadt zusammenziehen. Wenn dies zutrifft, muss es sich um Vorbereitungen für eine Unterstützung der bevorstehenden Offensive der Regimetruppen gegen Ostaleppo handeln. Dies obwohl der zuständige russische General, Sergei Rudskoi, erklärt, "ein Sturm auf Aleppo" sei nicht vorgesehen, im Gegenteil sei Nusra-Front im Begriff ihre Kämpfer um Aleppo herum zu konzentrieren.
Gleichzeitig werden Nusra und Verbündete in der Provinz Idlib, südwestlich von Aleppo, von den Russen bombardiert, gewiss als Versuch, eine angekündigte Offensive von Nusra und Verbündeten Richtung Lattakiya abzuwürgen, bevor sie gefährlich werden kann.
Alle gegen Alle nördlich von Aleppo
Im Raum nördlich von Aleppo stossen der IS und Rebellengruppen aufeinander, die teilweise zu den Verbündeten der Nusra gehören, teilweise nur zu den Gruppen, die gemeinsam mit der Nusra kämpfen, ohne formell mit Nusra verbündet zu sein und teilweise zu jenen, wie der FSA, die Nusra misstrauen und nur punktuell mit ihr zusammenarbeiten.
Im gleichen Raum versuchen auch die Truppen Asads soweit vorzudringen, dass sie Aleppo im Norden von der Verbindung zur türkischen Grenze abschneiden. Dazu kommen auch noch die Kurden, die ihrerseits versuchen, ebenfalls im Raum nördlich von Aleppo ihre noch immer getrennten Herrschaftsgebiete von Afar im Westen und Kobane im Osten miteinander zu verbinden. Dies ist ein Bemühen, dem sich die Türken von jenseits ihrer Grenze widersetzen, indem sie Artillerie und Flugzeuge gegen die Kurden einsetzen.
Asad-Regime gegen Kurden in Qameschli
Während dies nördlich von Aleppo vor sich geht, sind die Kurden und Truppen der Asad-Regierung viel weiter im Osten und auch an der türkischen Grenze innerhalb der Stadt Qameschli zusammengestossen und kämpfen seit mehreren Tagen gegeneinander. Die Asad-Truppen stehen dort eingekreist und umgeben von kurdischen Kämpfern. Sie halten noch immer einen Militärflughafen und einige Stadtteile von Qameschli besetzt. Viele Monate lang koexistierten sie mit den Kurden, jeder in seinem Stadtteil.
Doch diese Koexistenz ist zusammengebrochen, ursprüglich wegen Zwischenfällen an einer der Strassensperren, die Qameschli zweiteilen. Nun versuchen die Kurden, die verbliebene Enklave der Asad-Truppen zu liquidieren. Diese werden über den Flughafen aus der Luft verproviantiert. Theoretisch sind die Amerikaner gewillt, den Kurden aus der Luft Unterstützung zu gewähren. Doch dies nur im Falle, dass es um Kämpfe mit dem IS oder der Nusra Front geht. Wenn die Kurden mit den Asad-Truppen zusammenstossen, können die Amerikaner ihnen keine Hilfe gewähren, weil sie damit riskieren würden, mit der Luftwaffe Asads zusammenzustossen und ihre bestehenden Absprachen mit dieser Luftwaffe zu kompromittieren.
Verhandlungen in Genf, Kämpfe in Syrien
Die theoretisch unter Waffenstillstand stehenden Rebellengruppen und "Heere", wie das "Heer des Islams", das "Heer des Jihad" und die "Freien Syriens" sind in Genf durch ihre Unterhändler vertreten. Dort drohten sie abzureisen, weil der Waffenstillstand von den Asad-Truppen gebrochen werde. Doch offenbar wurden sie überredet, noch zu verweilen und die dortigen indirekten Gespräche weiter zu führen.
Doch in Nordsyrien stehen diese Gruppen im Krieg gegen Asad und seine Verbündeten, teils weil sie von ihnen angegriffen wurden unter dem Vorwand, sie seien Verbündete der Nusra. Teils wohl auch, weil einige ihrer stets versprengt handelnden Gruppen von den Offensivversuchen der Nusra- Front mitgerissen werden und tatsächlich in die Kämpfe eingreifen. Oder auch weil sie auf Bombardierungen reagierten, die von Seiten der Russen oder von Seiten Asads - oder gar von Seiten der Amerikaner - auf Ortschaften niedergingen, in denen sie, manchmal zusammen mit Nusra, Kämpfer stehen hatten.
Kein Ende der Kämpfe absehbar
All dies dient dazu, den Widerstand gegen Asad zu zersplittern und zu verunsichern. Auf diesem Weg wird die Offensive aufrechterhalten, die Asad zuerst mit Hilfe der russischen Luftunterstützung erlangt hatte. Als einzige Lösung für die Rebellen, um ihrerseits nicht stückweise übermannt und aufgerieben zu werden, bleibt, ihrerseits den Waffenstillstand nur dann aufrecht zu erhalten, wenn sich für sie ein Vorteil aus ihm ergibt. Jedoch in allen anderen Fällen, wenn sie zusammen mit Nusra in Kämpfe verwickelt werden, sich auf die Seite Nusras zu schlagen, um zu vermeiden, isoliert und daraufhin einzeln liquidiert zu werden.
Man muss deshalb annehmen, dass der Waffenstillstand nur in Genf stattfinden wird, in Syrien jedoch die Kämpfe wieder zunehmen und weiter andauern werden.