Eine starke Reaktion auf die jüngsten Anschläge hatte er angekündigt, Premier Muṣṭafā al-Kāẓimī. Das scheint ihm nun geglückt: Abū Yāsir al-ʿIsāwī, der «Anführer der Liga des Bösen» (wie ihn al-Kāẓimī bezeichnete), eines der ranghöchsten Mitglieder des Kampfbundes «Islamischer Staat» (IS) im Irak, wurde Ende Januar getötet.
Trügerische Hoffnungen
Während die internationalen Medien darüber diskutieren, wie wichtig Issawi im IS wirklich war und ob die Regierung hier nicht bloss einen Erfolg aufzubauschen versuche, scheint ein Aufatmen durch die irakische Öffentlichkeit zu gehen. Die Hoffnung im Irak ist gross, dass der IS tatsächlich in den letzten Zügen liege und es sich bei den Kämpfern nur um letzte Überreste dieser Gruppe handle, die von 2014 bis 2017 weite Teile des westlichen und nördlichen Territoriums kontrolliert hatte. Doch diese Hoffnungen dürften sich als trügerisch erweisen. Die beiden jüngsten Anschläge wecken Erinnerungen an die Gewalt, die das Land seit dem Sturz des Baʿṯ-Regimes immer wieder erschütterte. Besonders opferreich fiel der Angriff zweier Selbstmordattentäter auf einen Markt in der Hauptstadt Bagdad aus, der dutzende Tote und über hundert Verletzte forderte. Daneben geriet der wenige Tage davor durchgeführte Anschlag auf Strommasten in Ǧufr aṣ-Ṣaḫar südlich von Bagdad fast in Vergessenheit. Doch dieser Angriff zeigt, dass der IS wieder über die Voraussetzungen verfügt, auch südlich der Hauptstadt zuzuschlagen.
Sunnitische Unzufriedenheit
So gibt es neben der Genugtuung über den erfolgreichen Schlag gegen den IS denn auch Stimmen, die darauf hinweisen, dass es sich bei den Attentätern wie auch bei Issawi um Iraker handelte, was der öffentlichen Darstellung des IS als Fremdkörper im Land zuwiderläuft. Um den IS wirklich besiegen zu können, so diese Kommentare, müsse erst die sunnitische Bevölkerung wiedergewonnen werden. Und tatsächlich dürfte die Unzufriedenheit in den sunnitisch dominierten Gebieten einen willkommenen Hintergrund für das angestrebte Comeback des IS sein. Viele Menschen im Norden und Westen des Landes fühlen sich von der Regierung in Bagdad vernachlässigt, gar diskriminiert. Die (grösstenteils schiitischen) Haschd (Hašd)-Milizen, die massgeblich am Kampf gegen den IS beteiligt waren und nun die rückeroberten Gebiete kontrollieren, werden nicht als Befreier, sondern als fremde Besatzer wahrgenommen. Sie gelten als korrupt, gar kriminell, und sind teilweise gewalttätig gegenüber der Zivilbevölkerung. Das ist besonders besorgniserregend, weil der Aufstieg 2014 und die grossen Gebietsgewinne des IS 2014 erst dadurch ermöglicht worden waren, dass sich weite Teile der sunnitischen Bevölkerung von der Bagdader Regierung abgewendet hatten. So könnten paradoxerweise gerade diejenigen Milizen, die den IS besiegt haben, zu dessen Wiedererstarken beitragen.
Ideologie des Kampfes
Der IS selber sieht sich allerdings nicht als Verfechter der Interessen der sunnitischen Bevölkerung, sondern setzt Gewalt mehr denn je ins Zentrum seiner Ideologie. So wurde in jüngeren IS-Publikationen darauf hingewiesen, dass der Kampf (qitāl) auch losgelöst vom Dschihad (verstanden als religiös legitimierter Krieg) weiterzuführen sei – im Gegensatz zu diesem nicht als kultische Pflicht, sondern als geradezu zugehörigkeitsstiftendes Charakteristikum der Gemeinschaft der wahren Muslime.
In diesen Publikationen tauchen zudem wieder vermehrt die Schriften von Abū Musʿab az-Zarqāwī auf. Der 2006 getötete Anführer einer Vorgängerorganisation des IS prägte die Strategie der Extremisten massgeblich mit, wonach durch Terroranschläge gegen die schiitische Zivilbevölkerung eine gewaltsame Reaktion gegen die Sunniten provoziert werden sollte. Ziel war die Eskalation des Konflikts zwischen den beiden Konfessionen – ein Vorgehen, das auf grausame Weise erfolgreich war und insbesondere Bagdad zwischen 2006 und 2008 in Gewalt versinken liess. Doch erst 2014 gelang es dem IS, das entstehende Chaos tatsächlich auch für die Etablierung lokaler Gebietsherrschaften zu nutzen.
Zurück zu 2006
Die beiden jüngsten Anschläge weisen genau auf diese Destabilisierungsstrategie hin. Der eine durch den Angriff auf die schiitische Zivilbevölkerung, der andere mit einem Schlag gegen die Elektrizitäts-Infrastruktur – einer Achillesferse der Regierung, ist die unzureichende Stromversorgung doch ohnehin ein wichtiger Treiber der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Während gegenwärtig die Angst umgeht, der IS könnte in seiner territorialen Form zurückkehren, die er zwischen 2014 und 2017 innehatte, scheint sich dieser vielmehr auf seine früheren Terrorstrategien zu besinnen. Es besteht also eher die Gefahr, dass der IS von 2006 zurückkehrt, und mit ihm Terror und schiitische Gegengewalt. Die Erinnerung an diese konfessionelle Gewalt lastet noch immer als nationales Trauma schwer auf dem Irak. Dass entsprechende Befürchtungen nicht unrealistisch sind, zeigte das gewaltsame Vorgehen von Haschd-Milizen gegen Zivilisten in der Umgebung von Tikrit, denen sie vorwarfen, den IS bei den jüngsten Anschlägen unterstützt zu haben.
Düstere Aussichten
Die Erfolgsaussichten des IS sind somit zwiespältig. Eine bedeutende territoriale Kontrolle konnte er nur erreichen, als er für grosse Teile der sunnitischen Bevölkerung eine tatsächliche Alternative zum irakischen Staat darstellte, von dem sie sich ausgestossen fühlten. Eine Unterstützung dieses Ausmasses zeichnet sich heute nicht ab. Dagegen hat er als Terror- und Guerilla-Organisation, die für ihren Kampf gegen die Haschd-Milizen mit Sympathien rechnen darf, gute Karten. Auch der IS in der Form von 2006 ist für den Irak brandgefährlich – zumal das Land aufgrund der Corona-Pandemie, den Protestbewegungen im Süden und dem Machtkampf zwischen der Regierung und den Haschd-Milizen bereits mit dem Rücken zur Wand steht. Mit den Milizen auf der einen, den IS-Extremisten auf der anderen Seite gewinnen Gewaltakteure an Gewicht, die kein Interesse an einer Befriedung des Landes haben. So droht dem Irak weniger ein Kampf zwischen dem National- und dem «Islamischen» Staat, sondern die Etablierung von Warlords, die von der Instabilität profitieren. Wichtiger als kurzfristige militärische Triumphe zu zelebrieren wäre daher, den Terrorismus nicht als Fremdkörper, sondern als ein im eigenen Land generiertes Problem zu erkennen und auf eine verbesserte Integration der sunnitischen Bevölkerung hinzuarbeiten.