Nach dem Fall von Kabul spielen Amerikas Politik und Medien das sogenannte «blame game», d. h. sie überbieten sich gegenseitig in Schuldzuweisungen, wer dafür verantwortlich ist, was derzeit in Afghanistan geschieht. Die meisten Kommentatoren, sowohl Politiker wie Medienschaffende, tun das aus zweiter Hand. Nur die wenigsten sind selber je in Afghanistan gewesen, kennen Land und Leute aus eigener Erfahrung. Etwa so wie jene Kongressabgeordneten, die früher am Hindukusch gedient haben, oder die Reporter und Fotografinnen, welche im Laufe der Jahre aus dem Krieg berichtet haben.
Einen einzigartigen Zugang zum aktuellen Geschehen oder zumindest zu den Taliban hatte Armee-Veteran Ian Fritz. In der US Air Force diente er nach einer Spezialausbildung in Dari und Paschtunisch als Linguist von 2008 bis 2013 in Afghanistan. Während total 600 Stunden flog er 99 Einsätze in einem bewaffneten Flugzeug der Special Operations Command der Luftwaffe. Rund 20 dieser Missionen waren seiner Erinnerung nach tödliche Kampfeinsätze, die insgesamt an die 50 Stunden dauerten. Weitere 100 Stunden endeten im Sammeln von «usable intelligence», d. h. von brauchbaren Informationen über die feindlichen Kämpfer.
Alltägliches Geplauder
Die übrige Zeit, erinnert sich Ian Fritz im Magazin «The Atlantic», hätten die abgehörten Taliban damit verbracht, sich untereinander zu unterhalten: «Ausser über den Dschihad zu witzeln, sprachen sie über viele der gleichen Dinge, über die du und deine Nachbarn reden: Pläne für das Mittagessen, Quartierklatsch, miserable Strassenverhältnisse oder das Wetter, das sich nicht so verhält, wie man es möchte. Es gab Streit, Beschimpfungen, allgemeines Jammern. Sie tagträumten über die Zukunft, machten Pläne für die Zeit nach dem Abzug der Amerikaner und erfreuten sich an der Vorstellung, ihr Land zurückzuerobern. Meistens aber blödelten sie herum.» Wofür sich Fritz zufolge Dari und Paschtunisch mit ihrem Hang zu Wortwitz und Beleidigungen besonders gut eignen.
Ein Dialog unter Taliban ist dem Air-Force-Veteranen besonders in Erinnerung geblieben. Er spielte sich eines Winters während eines Fluges über Nordafghanistan ab, wo die Berge hoch und die Temperaturen tief sind, d. h. unter Null liegen. Ein Taliban befiehlt einem anderen, in der Kurve einer von den US-Truppen befahrenen Strasse einen selbstgebauten Sprengkörper zu platzieren, worauf der andere antwortet, ob das nicht bis am folgenden Tag Zeit habe. Die beiden Taliban beginnen zu streiten, wie nötig es sei, die fragliche Bombe umgehend zu legen: «Muss ich das jetzt tun?» – «Ja! Tu es!» – «Ich will das nicht.» – «Bruder, warum nicht? Wir müssen Heiligen Krieg führen!» – «Bruder … Es ist zu kalt für den Dschihad.»
Was andere nicht hören wollten
Zehn Jahre nach seinem letzten Einsatz und nach 20 Jahren der Kämpfe mit der reichsten und modernsten Armee der Welt hätten die Taliban nun Afghanistan zurückerobert, schreibt Ian Fritz. Welche falschen Hoffnungen auch immer sprossen, ob das passieren oder wie lang das dauern würde, sie seien so effizient erledigt worden wie die afghanischen Sicherheitskräfte innert einer Woche durch die Taliban: «Welche bescheidenen Fortschritte für Frauenrechte, Bildung und gegen Armut auch erzielt worden sind, sie werden systematisch rückgängig gemacht werden. Jegliche Ansätze einer Demokratie werden verschwinden. Und während eines Tages vielleicht ‘Frieden’ herrscht, so erst dann, wenn alle verbliebenen Kräfte des Widerstands überwältigt oder tot sind. Die Taliban haben uns das gesagt. Oder sie haben es zumindest mir gesagt.»
Sie hätten ihm, schliesst Ian Fritz, über ihre Pläne, Hoffnungen und Träume erzählt. Sie hätten ihm genau gesagt, wie sie diese Ziele erreichen würden und wie nichts sie stoppen könne. Sie hätten ihm gesagt, dass sie darauf vertrauten, dass ihre Waffenbrüder diese Ziele erreichten, auch wenn sie selbst sterben würden. Sie hätten ihm erzählt, wie sie planten, weiterhin Amerikaner zu töten. Sie hätten ihm über die Einzelheiten dieser Pläne berichtet (…). Sie hätten ihm erzählt, dass die Welt dank der Hilfe Gottes in ihrem Sinne werden würde: «Und sie sagten mir, was so viele andere nicht hören wollten, was ich aber schliesslich verstanden habe: 'Afghanistan gehört uns'.»