Es war im Mai 1984. Anlass der Reise nach New York war eine Reportage über Schweizer, die es im „Big Apple“ zu etwas gebracht hatten: als Kaufleute, Köche, Modeschöpfer, Patissiers – nicht eben ein originelles Thema, aber in einer Illustrierten attraktiv zu bebildern (zum Beispiel mit der Aufnahme eines erfolgreichen Swatch-Verkäufers, der sich auf dem Times Square wie ein Exhibitionist präsentierte, mit lauter Uhren am unanständig nach aussen geschlagenen Mantelfutter). Neben der patriotisch inspirierten Reportage in Manhattan blieb aber noch Zeit für Anderes. Die wollte ich nutzen zu einem Besuch bei André Kertész, zu einer Visite, die eine gute Bekannte des Fotografen eingefädelt hatte.
Unvergessliche Adresse
Unvergesslich allein schon Kertész’ Adresse; „1 Fifth Avenue“. Nach seiner Zeit in Paris war der Ungare 1936 nach Amerika ausgewandert, wo er für Modemagazine wie „Vogue“, „Collier’s“ oder „Harper’s Bazar“ zu fotografieren begann. Ein Versuch, nach der Befreiung Frankreichs durch die Alliierten seine Negative aus Paris nach New York holen zu lassen, scheiterte: Mehr als die Hälfte der Negative gingen während des Transports verloren.
André Kertesz, am 2. Juli 1894 in Budapest als Sohn eines jüdischen Buchhändlers geboren, hatte als 18-Jähriger zu fotografieren begonnen – ein Entscheid, den er dem Vernehmen nach traf, nachdem er auf einem Estrich ein Handbuch über Fotografie gefunden hatte. Eigentlich hätte er Bankangestellter werden sollen.
Seine erste Kamera war eine Ica, später in den 20er-Jahren in Paris kaufte er die erste Leica, aus den Einkünften seiner ersten Ausstellung in der Galerie Sacre du Printemps. „Vielleicht mehr als jeder andere Fotograf hat André Kertész die besondere Ästhetik der Kleinbildkamera entdeckt und vorgeführt“, schreibt John Szarkowski, der langjährige Direktor der fotografischen Abteilung des Museum of Modern Art (Moma) in New York, im Buch „Looking at Photographs“: „Seit er 1912 zu fotografieren begonnen hatte, suchte er die Verheissungen der elliptischen Sichtweise…das unerwartete Detail…den vergänglichen Augenblick…nicht die epische, sondern die lyrische Wahrheit.“
André Kertész’ Wohnung, so die Erinnerung des Besuchers an jenen 1. Mai, war voll gestopft mit Büchern und Memorablien, die gemütliche, leicht verstaubte Bleibe eines kreativen Geistes. Das Apartment, in dem er seit 1948 wohnte, hatte auch einen kleinen Balkon, von dem aus er gern zu fotografieren pflegte, in späteren Jahren auch mit einer Polaroid-Kamera.
Etwas irritiert reagierte er nun aber auf den begleitenden Fotografen, den die Präsenz des Altmeisters nicht sonderlich zu beeindrucken schien und der, da angeblich unter Zeitdruck, rasch ein paar Bilder des 90-Jährigen schoss, unter Einsatz von Blitz und Motor. Als der Fotograf gegangen war war, fragte Kertész sichtlich verwundert: „Fotografiert man heute wirklich so?“. Und er bat den Besucher, ihn für ein paar Schritte an die frische Luft zu begleiten. Kamera nahm er dabei keine mit.
"Das ist meine Erfahrung hier in Amerika"
In einer Querstrasse entdeckte Kertész ein Schaufenster, in dem ein paar Pflastersteine lagen. Die wollte er kaufen, als Briefbeschwerer, doch als er sie im Laden prüfend in die Hand nahm, stellte er mit Erstaunen fest, dass sie wider Erwarten leicht und aus Kunststoff waren. „Sehen Sie“, sagte der Europäer, der nach wie vor seiner alten Heimat nachtrauerte, „das ist meine Erfahrung hier in Amerika: Ich will einen Stein und ich kriege eine Imitation.“ Die Aussage erinnerte an einen Spruch des Wiener Autors Alfred Polgar (1873-1955), der wie André Kertész vor den Nazis in die USA geflüchtet war und in den 40er-Jahren ebenfalls in New York lebte: „Die Fremde ist nicht Heimat, aber die Heimat fremd geworden.“
Anders als Polgar aber, der in Zürich begraben liegt, kehrte Kertész nicht nach Europa zurück. Er starb am 28. September 1985 in New York. Kertész, analysiert Szarkowski, habe in seinem Werk neben formalem Erfindungsgeist ein anderes nicht minder wichtiges Talent bewiesen: „Es ist ein Gespür für die Leichtigkeit des Seins, ein kindliches Vergnügen an der Schönheit der Welt und der Kostbarkeit des Sehens.“
Seine erste amerikanische Fotopublikation war 1971 erschienen – bevor er berühmt wurde. Das 64-seitige Bändchen trägt den Titel „On Reading“ und ist seinen Brüdern gewidmet. Die Schwarz-Weiss-Aufnahmen zeigen Menschen, in allen möglichen Posen und meist allein, bei der eifrigen Lektüre eines Buches oder einer Zeitung. Es sind, im Zeitalter der Digitalisierung, Bilder einer verschwindenden Welt.
Kertész und Cartier-Bresson
Prä-Reminiszenz: 1981, drei Jahre vor dem Besuch bei André Kertész in New York, zeigte Henri Cartier-Bresson im Kunsthaus Zürich sein fotografisches Lebenswerk. Ich hatte damals die Gelegenheit, mit dem Fotografen Jakob Tuggener (1904-1988) durch die Ausstellung zu schlendern. Tuggener schaute sich die Aufnahmen des Franzosen genau an und schüttelte gelegentlich den Kopf. „Entschuldigung, aber gefällt Ihnen Cartier-Bresson nicht?“, fragte ich den 77-Jährigen. Jakob Tuggener ging nicht auf die Frage ein und sagte nur kurz: „De Kertész isch besser.“ Und was hatte Henri Cartier-Bresson einst über seinen ungarischen Kollegen gesagt? „Wir alle verdanken Kertész etwas.“
Zur Ausstellung in Winterthur erscheint ein umfassender Katalog: „André Kertész“; Hg. Michel Frizot und Annie-Laure Wanaverbecq; Hatje Cantz Verlag