Martin Leuthold zaubert Bilder und Stimmungen durch textile Kreationen.
Schuld war eigentlich Christa de Carouge.
Sie wissen schon: diese Modedesignerin mit der grossen runden Brille, dem kurzen Haar und den wallenden schwarzen Kleidern … Wobei, «Schuld» ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn es hat sich als ausgesprochener Glücksfall entpuppt, dass Christa de Carouge vor einigen Jahren Martin Leuthold in einer Textil-Angelegenheit um Rat fragte.
Und das kam so.
«Christa de Carouge war eine Freundin von uns und der Firma Schlaepfer», erzählt Martin Leuthold, der zu jener Zeit noch als Stoff-Designer bei Schlaepfer tätig war, einem der führenden St. Galler Textilunternehmen. Martin Leuthold entwarf Stoffe für die Pariser Haute Couture, und auf den Laufstegen von Chanel, Yves St. Laurent oder Dior wurden nicht nur die Kleider bewundert, sondern auch Leutholds überaus edle und kreative Stoffe, aus denen die Modelle geschneidert waren.
Aber auch die Schweizer Mode-Dame Christa de Carouge bezog ihre Stoffe hier bei Martin Leuthold. Eines Tages flatterte ihr eine Anfrage vom «Felsenfest» in Bivio auf den Tisch. Das ist eine Veranstaltung für Kunsthandwerk. «Da kam Christa zu uns und fragte, was soll ich da mit meinen schwarzen Kleidern?» Sie habe mal zugesagt und bekäme einen Ausstellungsplatz in einem Stall mit einem Heustock und wahnsinnig schöner Atmosphäre, berichtete sie Leuthold. Und sie habe sich nun überlegt, einen Kimono zu entwerfen, den sie über den Heustock hängen könne, erklärte sie. Aber nicht in Schwarz, sondern in bunten Alpenblumen. Und sie fragte, ob Martin Leuthold vielleicht für sie so einen Stoff entwerfen könnte …?
Klar. Konnte er.
«Ich habe die gewünschten bunten Alpenblumen auf goldenen Brokat gedruckt und Christa hat daraus einen japanischen Kimono interpretiert. Das sah grossartig aus in dem Stall, die Leute waren begeistert», Martin Leuthold strahlt noch heute, wenn er von seinem Besuch im Ausstellungsstall in Bivio erzählt.
Schafwolle statt Brokat
Ebenfalls in Bivio am «Felsenfest» hatte eine andere Frau ihre Kreationen präsentiert: Schafdecken mit Kissen und Duvets. «Eigentlich ist das auch eine Couture-Arbeit», sagt Martin Leuthold, «die Sachen sind unglaublich schön, zweckmässig und grossartig.» Diese Frau war Lucia Netzer, die Mutter von Giovanni Netzer, dem Gründer und Leiter von «Origen». Das Kulturprojekt «Origen» sorgt seit rund 15 Jahren dafür, dass im Bündnerland Kultur nicht nur bewahrt, sondern auch sehr aktiv betrieben wird. Und Lucia Netzer war ihrerseits total begeistert von Christa de Carouges Kimono und dessen farbenprächtigem Leuthold-Stoff.
Auf der Rückfahrt von Bivio nach St. Gallen besuchte Leuthold Lucia Netzers Atelier in Savognin und er war total fasziniert von den Schafwoll-Arbeiten. «Ich habe dann gefragt, ob ich ein Stück Wollfliess haben dürfte, weil ich ausprobieren wollte, was man im Textilbereich daraus machen könnte.» Und das interessierte natürlich auch Christa de Carouge als Mode-Designerin. «Mit Perlen hat sie das Wollfliess auf einem Stoff fixiert, dann aufgeschnitten und heiss gewaschen. Dadurch waren die Perlen in Wolle eingepackt.» Das klingt wundersam, und Lucia Netzer war beeindruckt. «Das war vor etwa 15 Jahren und wir hatten den Kontakt dann wieder verloren.»
Jahre später bekam Martin Leuthold ein Mail und jemand fragte, ob er vielleicht ein paar Stoffreste haben könnte für Kostüme. «Solche Anfragen gab es immer mal wieder und wir hatten bei Schlaepfer einen kleinen Fundus mit Stoffen, wo zum Beispiel Theater oder Kindergärten, die Stoffe brauchten, etwas aussuchen konnten. Aber sie mussten persönlich vorbeikommen. Der Anfrage beigelegt waren drei Bilder mit Kostümentwürfen von Picasso. So ungefähr stelle er sich die Kostüme vor, hiess es in dem Mail. Da habe ich zurückgeschrieben, er müsse persönlich vorbeikommen und im Übrigen fände ich es auch nicht so eine gute Idee, Picasso nachzuahmen.»
Am nächsten Morgen um acht Uhr stand Giovanni Netzer in St. Gallen vor Martin Leutholds Stoff-Fundus. Und er sagte: «Die Mama hat mir von Ihnen berichtet …», und schon war der Kontakt wieder da. Giovanni Netzer hat nun auch erzählt: von Samson, dem unbezwingbaren Helden, über den er ein Theaterstück in seiner Burg in Riom aufführen wolle, von der Hochzeitstorte, die er auf die Bühne stellen wollte und dann sei da ein Engel und die ganze Entourage von Samson und alle singen und alle brauchen Kostüme … und Stoffe … und und und …
Zwischen Theaterkostüm und Haute Couture
Man kann sich vorstellen, dass es Martin Leuthold ganz trümmelig geworden ist bei dieser Aufzählung. Aber da er Extravaganzen auch von der Pariser Haute Couture gewohnt war und letztlich wohl auch schätzt, liess er sich auf das Abenteuer ein. «Giovanni Netzer hat so faszinierend und so spannend erzählt … da kann man einfach nicht ‘nein’ sagen.»
Das war an einem Montagmorgen. Am Freitag sollte Premiere sein. «Ich habe ein paar Zeichnungen gemacht, Stoffe für Kostüme ausgesucht, die auf die Schnelle gemacht werden konnten, das war am Dienstag. Am Mittwochabend ist Mama Netzer gekommen, um die Stoffe abzuholen und die Kostüme zu nähen, am Donnerstag haben wir die letzten Stoffe nach Riom gebracht und Giovanni sagte, jetzt fehlen noch Kostüme für die drei Soldaten … Da wusste ich wirklich nicht mehr weiter …» Denn es war ausserdem drei Wochen vor den Défilés der grossen Modeschauen in Paris. Chanel, Dior & Co warteten ebenfalls … «Giovanni ignorierte das einfach … und ich war erst mal ratlos.» Dann hat Martin Leuthold tief Luft geholt, zur Schere gegriffen und einige Entwürfe zerschnitten und irgendwie sind im Handumdrehen Gewänder für die Soldaten entstanden. Anderntags war Premiere von «Origen» in der Burg von Riom.
«Es war eine grossartige Aufführung», sagt Martin Leuthold heute und strahlt. «Die Geschichte, die Inszenierung – alles ganz anders als in einem normalen Theater. Damals hat es mir ‘den Ärmel so richtig reingenommen’, das war wirklich schön …» Von da an gehörte Martin Leuthold bei «Origen» einfach dazu. Gleichzeitig entwarf er für die Pariser Couturiers weiterhin diese edlen Stoffe, diese textilgewordenen Traumgebilde, diese unvergleichlichen Materialien, die die konkrete Basis der ausgefallensten Entwürfe textiler Phantasie sind.
Das liegt jetzt alles rund 15 Jahre zurück. Seit dem Verkauf der Firma Schlaepfer ist Martin Leuthold nun nicht nur mit Rat und Tat, sondern auch mit Herz und Seele für «Origen» tätig. Sein Atelier liegt mitten in der thurgauischen Landschaft, in Hegi bei Winden. In einer ehemaligen Scheune hat er seine Werkstatt. Das Haus nebenan ist sein Elternhaus seit vier Generationen. Am Ende der Welt könnte man sagen, weit weg von Glanz und Glamour der internationalen Mode-Schickeria. «Für mich ist es wichtig gewesen, dass ich so weiterarbeiten konnte, wie ich es vorher für Dior oder Chanel getan habe. Ich habe ja nicht meine eigene Kunst gemacht, sondern für andere etwas Schönes entworfen. Das versuche ich jetzt auch. Die Entwürfe sollen eine Identität mit ‘Origen’ ergeben.»
Riom und Mulegns anstelle von Paris
Ein riesiger Arbeitstisch, ein Computer und viele Stoffstücke. Ganz fein und durchsichtig, auf Samt oder in Baumwolle. Alles ist da. Ein Stofffabrikant aus Como kommt mit seinem Musterkoffer und macht eine Auslegeordnung der verschiedenen Materialien. Mit gekonntem Schwung lässt Leuthold die Stücke durch die Luft wirbeln, sieht zu, wie sie sich bewegen, wie sie fallen und wie die Farben im Licht wirken. Martin Leutholds Welt hat sich verändert und ist doch die gleiche geblieben: ausstaffiert mit Stoffen. Nur die Bühne ist eine andere. Statt Laufstege in Mailand, New York oder Paris, ist nun die Burg in Riom seine Welt, wo seine Kostüme für Tanz-Compagnien, Gesangs- und Schauspieltruppen Furore machen.
Allerdings ist inzwischen noch einiges hinzugekommen. Insbesondere das Hotel «Löwen» und die Weisse Villa in Mulegns. Hier kann Martin Leuthold aus dem Vollen schöpfen und in Farben, Mustern, edlen Materialien schwelgen und seiner Phantasie freien Lauf lassen. «Als die Theateraufführungen noch im Roten Turm auf dem Julier stattgefunden haben, sind wir unterwegs immer bei der Frau Willi im Löwen in Mulegns eingekehrt,» erzählt Leuthold. «Giovanni war fasziniert von der Frau und ihrer Geschichte. In dem Haus war seit der Gründung nichts weggeräumt worden, alles war noch im Original vorhanden.» Frau Willi liess sich überzeugen von den Plänen, das Haus mit seiner ganzen Geschichte wieder aufleben zu lassen, mit ein paar Zimmern zum Übernachten, aber vor allem mit einer prächtigen Ausstattung. Neu, aber im alten Stil. Martin Leuthold konnte schwelgen in Farben und Formen, in Mustern und Materialien, in Phantasie und Handwerk.
«Das Hotel hat sich im Laufe der 180 Jahre auch laufend verändert und den Bedürfnissenn der jeweiligen Zeit angepasst. Die Zimmer sind mehrmals neu tapeziert worden und zwar immer mit dem Neuesten, was dem damaligen Geschmack gerade entsprochen hat. Die Gästebücher, die Kassenbelege von damals, alles ist noch vorhanden!» Martin Leuthold kommt immer mehr ins Schwärmen. «Man spürt noch die grossartige Welt, die man damals hier hatte. Harry Truman, der amerikanische Präsident, hat hier übernachtet, Queen Mary, Albert Einstein, Conrad Röntgen, Albert Schweizer… sie alle haben die Geschichte dieses Hauses geschrieben.» Die Bilder an der Wand, die Ozeandampfer auf dem Meer, illustrierten die Träume von einer Reise nach Amerika. Und über das Telegrafenamt vor dem Hotel waren die Fremden, die über den Pass reisten, in Verbindung mit aller Welt.
Vom Roten Turm zum Weissen Turm
Der Rote Turm auf dem Julier ist inzwischen Vergangenheit und viele wunderbare Veranstaltungen bleiben in Erinnerung. Tanz, Musik, Gesang, eine runde Bühne, Fenster mit Blick in die archaische Landschaft des Juliers, nachts waren Mond und Sterne sichtbar. Geschichten über Emigration und Immigration, vieles auf Romanisch, Lieder von verführerischer Melancholie.
Der Rückbau des Roten Turms war für alle Beteiligten emotional. Nun wird es wieder einen Turm geben. Nicht auf dem Julier, aber in Mulegns, wo die ETH zusammen mit Origen neben dem «Hotel Löwen» einen Weissen Turm baut, und zwar aus einem 3-d-Drucker. Ein Abenteuer in High-Tech, das an die Träume von Zukunft und Fortschritt anknüpft, die früher schon zum «Hotel Löwen» und seinen prominenten Gästen gehörten.
Neben Riom ist Mulegns nun der neue Standort für «Origen». Und damit auch für Martin Leuthold. Das «Hotel Löwen» wird auch wieder für Gäste geöffnet, die dann ihrerseits in Martin Leutholds Farben und Mustern schwelgen können. «Es soll aber kein Designhotel werden, von dem die ganze Welt ‘wow’ sagt», betont Martin Leuthold ausdrücklich. Am 10. Juni wird das Haus wieder eröffnet, dann kann es ausgiebig besichtigt werden. Und zwei Wochen später, am 25. Juni, wird Bundesrat Parmelin den Weissen Turm von Mulegns eröffnen. Er wird dann das höchste digital angefertigte Gebäude der Welt sein. Wieder eine Sehenswürdigkeit mehr.
Auch die «Weisse Villa» nebenan erstrahlt in neuem Glanz. In diesem Haus wird die Geschichte der Zuckerbäcker erzählt, die früher aus dem Bündnerland in alle Welt ausgezogen sind und im Alter wieder in die Heimat zurückkehrten. Und auch hier hat Martin Leuthold mit seinen Mustern und Textilien die Ideen und Gedanken in Formen und Farben umgesetzt. «Es ist eine bereichernde Zusammenarbeit geworden» erzählt Martin Leuthold heute. «Man muss immer wieder nach kniffligen Lösungen suchen und gerade das Hotel Löwen ist natürlich eine Fundgrube. Es ist eine unglaubliche geschichtliche Inspirationsquelle für das Theater, für das Optische».
Dass Martin Leuthold dabei nicht überbordet, dafür sorgt auch die Denkmalpflege.
«Meine kreative Werkstatt ist hier in Hegi», sagt Martin Leuthold. «Aber die letzten zwei, drei Jahre war ich regelmässig jede Woche in Riom und Mulegns.» Rückblickend auf seine Tätigkeit bei Schläpfer und die edlen Roben auf den Laufstegen der Pariser Haute Couture, ist sein Engagement für die Aufführungen und die dazugehörigen Kostüme und Spielstätten von «Origen» ein Übergang, den er nicht für möglich gehalten hätte. «Wie die Frau Willi mit ihrem Hotel», sagt er. «Sie freut sich wahnsinnig, dass wieder etwas passiert mit dem Haus, das sie ein Leben lang gepflegt hat. Auch sie hätte diese Entwicklung wohl nicht für möglich gehalten.»