Für einen "türkischen Frühling" müsste sich die gegenwärtige Bewegung über die mittelständische Jugend hinaus auf die Kreise der Arbeiter ausdehnen.
Die Protestwelle, die gegenwärtig von Istanbul aus durch die Städte der Türkei rollt, begann ganz klein: Etwa 50 Personen hielten am Freitag, dem 30 Mai, ein "Sit-in" auf dem Taksim Platz von Istanbul ab. Sie wollten damit gegen die geplante Neuentwicklung und teilweise Überbauung des an den Platz angrenzenden Gezi Parks protestieren.
Tränengas und Wasserwerfer
Taksim ist der zentrale Platz von Beyoglu, dem einst europäischen Quartier der Osmanischen Kapitale, das im 19. Jahrhundert zum damals modernen "europäischen" Geschäfts- und Ladenquartier der Hauptstadt geworden war. "Eid" heisst der Platz, weil damals die "modernen" Einheiten der osmanischen Armee dort ihren Fahneneid ablegten. Der Gezi Park ist eine der wenigen Grünflächen, die der heutigen Vielmillionenstadt verblieben sind.
Neuentwicklung in der heutigen Türkei bedeutet allzu oft "shopping malls", Hochhäuser und Luxuswohnungen für Reichen und diesen ermöglichen, noch mehr Geld zu machen.
In den frühen Morgenstunden des 31. Mai ging die Polizei offenbar sehr brutal gegen die Demonstranten vor. Sie benutzte mengenweise Tränengas und setzte Wasserwerfer ein. Zudem zirkulierte ein Video, das zu zeigen schien, wie in ein gepanzerter Wagen der Polizei einen Demonstranten überrollte. Der umstrittene Gezi Park wurde von der Polizei abgeriegelt. Das Vorgehen der Polizei, aufgenommen von vielen Handys und übers Internet weiter verbreitet, rief Empörung hervor.
Die Rolle der politischen Opposition
Die wichtigste Oppositionspartei, die CHP (für Republikanische Volkspartei), hatte auf den 1. Juni eine Grossveranstaltung in Kadikoy auf der asiatischen Seite des Bosporus angekündigt. Der Vorsitzende der Partei, Kemal Kiliçdaroglu, sagte diese Grossveranstaltung ab und forderte seine Anhänger auf, statt dessen auf die europäische Seite des Bosporus zu wechseln und dort den Demonstranten zu Hilfe zu kommen. Zehntausende von ihnen sollen dieser Aufforderung gefolgt sein. Die Polizei hatte sich angesichts der energischen Kritik an ihrem Vorgehen vom Gezi Park zurückgezogen.
So kam es, dass Massen von Demonstranten auf dem Taksim Platz ihren Sieg feierten. Demonstrationen spielten sich auch in 89 anderen Städten der Türkei ab. Fast 1000 Personen sollen in ihrem Verlauf festgenommen worden sein, und die Verletzten wurden auf über 1000 geschätzt.
Fortgesetzte Unruhen
Die Demonstranten kamen am Sonntag und Montag zurück, und einige ihrer Gruppen versicherten, sie würden den Platz nicht mehr verlassen, bis ihre Wünsche erfüllt seien. Erdogan trat mehrmals im türkischen Fernsehen auf und gab Radio- und Zeitungsinterviews
Anfangs räumte er ein, dass die Polizei sich zu brutal verhalten habe. Doch während der nächsten Tage verschärfte sich sein Ton. Er wetterte gegen die Demonstranten und warf der Oppositionspartei CHP vor, sie habe die Bevölkerung gegen den Staat aufgehetzt.
Der Taksim Platz, so sagte er unter anderem, könne nicht als Tummelplatz für marginale Gruppen dienen. Dort gab es in der Nacht Zerstörungen. Schaufenster wurden eingeschlagen und Automobile verbrannt. Am Morgen kamen friedliche Demonstranten und versuchten, aufzuräumen und sogar die Slogans an den Wänden zu tilgen - wie dies ja auch nach den Demonstrationen in Kairo der Fall gewesen war. Kiliçdaroglu sebst hatte sich von den Demonstration ferngehalten, und auch die Fahnen und Slogans seiner Partei traten dort nicht in Erscheinung. Dies scheint auf einer Abmachung beruht zu haben, die mit Staatspräsident Gül getroffen worden war.
Andauerndes Ringen mit den Laizisten
Die CHP ist die historische Partei, die Atatürk gegründet hat und anführte. Sie spricht für die "laizistisch" denkenden Türken - im Gegensatz zu der pro-islamischen AKP Erdogans, die seit 2002 regiert. AKP steht für „Gerechtigkeits- und Fortschritts Partei“. Die Spannungen zwischen der pro-islamischen und der "laizistischen" Denkweise ziehen sich durch die ganze Geschichte der modernen Türkei. Seit Atatürks "laizistischer" Revolution von 1921 regierte meist die CHP - oft mit Unterstützung der Armeeoffiziere, hoher Justizbeamter oder verwandter "laizistischer" Parteien.
Erst mit Erdogan ist die pro-islamische Ausrichtung durch mehrere Wahlsiege an die Macht gelangt, und sie hat sich in den letzten 10 Jahren bemüht, ihre "Islamische Demokratie" zu festigen. Was nicht ohne bittere Kämpfe zwischen den türkischen Säkularisten (die sich Laizisten nennen) und den Anhängern eines öffentlich in Erscheinung tretenden Islams ablief und weiterhin vor sich geht.
Eine "Lex Erdogan" als Verfassung ?
Zur Zeit gibt es ein Ringen um eine neue Verfassung, die Erdogan durchbringen möchte.Gelänge ihm es ihm, obwohl ihm bislang wenige Parlamentsstimmen dazu fehlten, würde das neue Grundgesetz ohne Zweifel die Position des Islam in der türkischen Öffentlichkeit festigen.
Zusätzlich würde auch die Macht Erdogans zementiert, denn die Pläne sehen vor, dass eine „Präsidiale Demokratie“ errichtet wird. In einer solchen könnte Erdogan sich vom Volk zum Präsidenten wählen lassen. Heute regiert er als Ministerpräsident, doch dieses Amt ist nach der bestehenden Verfassung auf drei Amtsperioden von vier Jahren beschränkt. Erdogan steht in seiner dritten Amtsperiode.
Erdogans Selbstherrlichkeit
Über die "weltanschauliche" Frage von Laizismus und "mehr Islam" hinaus gibt es Kritk an Erdogan, weil er in den Augen seiner Gegner und auch vieler nicht besonders politisch engagierter Türken immer selbstherrlicher regiert. Er ist immer ein sehr bestimmter und selbstgewisser Charakter gewesen, und diese Züge haben sich gefestigt, seitdem er als der einzige „Starke Mann“ in der türkischen Politik herrscht und disponiert.
Umgeben von glühenden Anhängern und auch von zu allen Schmeicheleien entschlossenen Opportunisten und gestützt auf grosse wirtschaftliche und politische Erfolge, hat er über die Jahre seine eigenen Pläne und Ansichten ohne grosse Konsultationen gefördert.
Der Umbau Istanbuls zur Weltstadt
Die städtebaulichen Fragen sind ein gutes Beispiel für diese Tendenz. Erdogans Pläne für seine Heimatstadt Istanbul, als deren Bürgermeister er seine politische Karriere begann, sind grandios. Seine Bewunderer sagen: der Riesenstadt und ihren Bedürfnissen angemessen. Diese Pläne für Istanbul sehen vor: eine dritte Bosphorus-Brücke, deren Bau soeben begonnen wurde; einen Kanal von 45 Kilometer Länge zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmara Meer, der die Meerenge des Bosphoros vom schweren Schiffsverkehr, besonders den brandgefährlichen Erdöltransporten, entlasten soll; Neuentwicklung ganzer Quartiere mit dem Verlust von historischer Substanz, den ihre Bewohner beklagen; Landreklamationen am Goldenen Horn, Entwicklung der dortigen früheren Depots und Hafenanlagen zu modernen Luxuswohnhäusern- und Geschäftsvierteln, natürlich mit ihren Wolkenkratzern, und sehr vieles mehr. Die Pläne für den Taksim Platz fügen sich in dieses Gesamtbild ein.
*+Die Wahl als Grundlage zur Alleinherrschaft**
Die Umgestaltung von Istanbul zur "Weltmetropole" bildete einen wichtigen Teil der Wahlpropaganda, mit der Erdogan und seine Partei zur Wiederwahl in der Wahlkampagne von 2011 antraten. Damals gewannen sie eine bedeutende Mehrheit im Parlament, jedoch knapp unter dem absoluten Mehr, das sie zuvor inne gehabt hatten.
In seinen scharfen Entgegnungen auf die Vorstellungen der Demonstranten hat Erdogan deutlich gemacht, dass er den damaligen Wahlsieg als eine Ermächtigung ansieht, seine Pläne für Istanbul nun auf eigene Faust durchzuführen. Er sagte, das Verhalten der Demonstranten widerspreche der Demokratie. "Wir", sagte er, das heisst seine Partei," benötigen nicht die Erlaubnis der CHP-Opposition. Unsre Erlaubnis liegt in den Stimmen, die wir erhielten".
Barrikaden und Strassenkämpfe
In den Nächten zum Sonntag und weiter zum Montag errichteten enthusiastische Gegner und Kritiker Erdogans und seines Regimes Barrikaden aus Pflastersteinen auf dem von der Polizei geräumten Taksim Platz. Sie strömten auch den Berg hinab nach dem Stadtteil Beschiktasch und stiessen dort mit der Polizei zusammen. Beobachter schätzen, dass etwa zehn Prozent der Demonstranten aus den jugendlichen Mittelschichten kämen, unterstützt von den Fussballenthusiasten, die auch aus Kairo bekannt sind. Der Polizei sollen Mitglieder einer AK Parteimiliz beigestanden haben, die mit Messern arbeiteten und damit ihre Gegner an den Beinen verwundeten.
Junge Leute des Mittelstandes
Hier seien alle zusammen gekommen, ausser den Leuten der AKP, sagten die Demonstranten. Manche sprachen von Revolution. Andere erklärten, "wir sind alle die Kinder Atatürks". Die Zeitungskommentatoren merken an, Erdogan sei noch immer mit Abstand der beliebteste Politiker der Türkei. Zu den Rückschlägen, die Erdogan in der jüngsten Zeit hat hinnehmen müssen, gehört seine Politik gegenüber der syrischen Revolution. Er sprach schon früh sehr heftig gegen Asad und musste erfahren, dass dieser über sehr viel mehr Mittel zum Widerstand gegen die syrischen Revolutionäre verfügte, als Erdogan und seine Freunde sich vorgestellt hatten.
Doch für viele der türkischen Jugendlichen, die demonstrieren, liegen wohl die innenpolitischen Probleme am nächsten. Die Teuerung etwa von Lebensmitteln und Wohnraum; die starken Einkommensunterschiede, die zu zwei Gesellschaften führen, einer ostentativ wohlhabenden Oberschicht und einer wachsenden darbenden Unterschicht. Die Mittelschichten werden zwischen den beiden Extremen zerrieben. Erdogan wird aber auch vorgeworfen, dass er die Meinungsfreiheit einschränke, Journalisten vor die Gerichte und in Gefängnisse bringe. Überhaupt werde sein Regierungsstil immer selbstherrlicher.
Ermahnungen von Staatschef Gül
Die Art, in der er auf die Demonstrationen reagierte, schien all diese Vorwürfe zu bestätigen. Am Montag war er soweit, dass er - wie alle Diktatoren in ähnlicher Lage- behauptete. "ausländische Agitatoren" seien für die Ereignisse verantwortlich. Staatschef Abdullah Gül hat sofort nach dem Ausbruch der Demonstrationen mit Erdogan, mit dem Inneminister und mit dem Bürgermeister der Grossstadt Telephongespräche geführt, und hat sie ermahnt, besonnen und elastisch auf die Ereignisse zu reagieren. Doch blieb dies im Falle von Erdogan ohne sichtbares Resultat.
Es gibt unübersehbare Ähnlichkeiten im Falle der arabischen Unruhen und jenem der neuen Entwicklung in der Türkei. Dazu gehören die elektronischen Massenmedien als Mobilisationsinstrument und die Bilder als Propagandainstrument gegen die Polizei, deren Brutalitäten durch sie weitum zirkulieren. Ebenso die Spaltung des Landes in pro-islamische Mehrheiten und bedeutende und wortmächtige säkularistische Minderheiten. Sogar die Reaktion Erdogans erinnert an jene Asads oder Mubaraks: im wesentlichen völliges Unverständnis für die Anliegen der Demonstranten.
Kein "arabischer Frühling"
Doch vorläufig bleiben Unterschiede. Erdogan ist ein durch wirkliche Wahlen bestätigter Mehrheitspolitiker, kein General oder Generalssohn, der seine Position einem Militärputsch verdankt. Die Türkei besitzt eine Vergangenheit von gut 100 Jahren parlamentarischer Politik, die zwar oftmals von Kriegen, Revolutionen, Militärputsche überschattet war, sich aber immer wieder durchzusetzen vermochte - unvollkommen gewiss, wie jede Demokratie, weil diese Regierungsform stets der Erneuerung bedarf, um fortzuleben - aber eben doch ein solider Sockel von demokratischen Vorstellungen, Erfahrungen und demokratischer Legitimität, dessen die arabischen Nachbarn entbehren.
Was die gegenwärtige Bewegung angeht, könnte sie abklingen oder noch weiter anwachsen und damit dem Experiment der islamischen Demokratie Erdogans gefährlich werden. Viel davon, wie es weiter geht, wird davon abhängen, ob die türkischen Arbeiter, organisiert in gewaltigen Gewerkschaftsverbindungen, in die Demonstrationen miteinstimmen, oder ob sie eine Sache der mittelständischen Jugend und des städtischen Subproletariates von Radaumachern bleibt.