Mit einem aussergewöhnlichen Konzert begeht der Zentralverein für das Blindenwesen in St. Gallen sein Jubiläum «100 Jahre Dienstleistungen für Menschen mit Hörsehbehinderung» – und verschafft auch den Hörenden und Sehenden ein besonderes Erlebnis.
«Herzlich willkommen zum ersten inklusiven klassischen Konzert der Schweiz!» ist auf der Schatulle zu lesen, die an diesem Freitagabend die St. Galler Konzertbesucher bekommen. Darin befinden sich ein Ballon, zwei Hörstöpsel, eine pechschwarze Brille mit einem einzigen kleinen Loch. Gruppen Hörsehbehinderter sind mit uns auf dem Weg nach oben in die ehrwürdige Tonhalle, einige werden auch auf der Bühne sitzen, mitten im Orchester, während Paul Dukas in seinem genialen Orchesterstück «L’Apprenti sorcier» einen arbeitsscheuen Zauberlehrling losschickt und spektakulär scheitern lässt.
Wahrnehmen, was sie wahrnehmen
Lehrlinge sind auch wir, die Hörenden und Sehenden. Für einmal sollen wir Gelegenheit bekommen, einzutauchen in die Welt der Menschen mit Hörsehbehinderung, wahrzunehmen, was sie wahrnehmen, und eine überraschende Erfahrung zu machen. Der in St. Gallen ansässige «Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen» (SZBlind) begeht auf diese Weise das hundertjährige Jubiläum seiner Dienstleistungen.
Doch Ruhe jetzt, es geht los. Jan Henric Bogen, der Direktor von Konzert und Theater St. Gallen, und Pierre-Alain Uberti, Geschäftsleiter von SZBlind, haben gesprochen, übersetzt von einer Gebärdendolmetscherin, Chefdirigent Modestas Pitrenas betritt die Bühne. Ich stopfe mir die Hörstöpsel in die Ohren, setze die Brille auf und nehme den aufgeblasenen Ballon in die Hände. Anfangs höre ich beinahe nichts, mit den Händen spüre ich an den Fingerkuppen nur meinen eigenen Puls. Dann verändert sich die Wahrnehmung, ich höre Feinheiten, auch wenn meine Hörstöpsel die hohen Frequenzen aussortieren, und spüre in den Händen, wie Wogen von Schallwellen bei mir ankommen. Das Konzert wird zum körperlichen Erlebnis, die Pauke erschreckt mich beinahe.
Besuch bei den schwer Beeinträchtigten
Als ich dann zwischendurch ohne Hörstöpsel weiterhöre, mutet das Orchester geradezu laut und grell an, während auf der Bühne das Konzert des Sinfonieorchesters St. Gallen in seine nächste Phase geht, nachdem Dukas’ «L’Apprenti sorcier» abrupt zu einem Ende gekommen ist. Maurice Ravels Konzert für Klavier und Orchester ist von anderer, weniger spektakulärer, dafür sehr filigraner Machart, und während Nelson Goerner am Klavier in perlenden Läufen die magische, vom Jazz beeinflusste Welt des musikalischen Impressionismus heraufbeschwört, gehen meine Gedanken spazieren. Ich erinnere mich an einen weit zurückliegenden Tag in der Psychiatrischen Klinik Wil, wo in den Heimstätten Wil Menschen mit teils schwerer geistiger Beeinträchtigung leben und arbeiten.
Es ist ein intensiver Tag gewesen, er ist mir ganz gegenwärtig, und ich denke oft zurück. An den Mann zum Beispiel, vor langer Zeit schwer verunfallt auf dem Bau, der mir Bilder von seiner Familie zeigt und unablässig redet. Oder an seinen Mitbewohner, den alles fasziniert, was sich dreht, und mit dem sie regelmässig zum Bahnhof gehen, um mit ihm die sich drehenden Zugsräder zu betrachten. Oder an diese Frau, die plötzlich aufmerkt. «Jetzt hat sie Sie gesehen», sagt die Betreuerin, «sie hat einen Tunnelblick.»
Ein Ort, an dem jeder und jede einfach sein kann
Es ist eine Schule der Empathie, durch die ich dort für einen knappen Tag gegangen bin, und vielleicht ist dieser Abend in der Tonhalle St. Gallen ja etwas ganz Ähnliches: SZBlind will uns zeigen, wie sich die Welt für die grosse Zahl von 57’000 Menschen mit Hörsehbehinderung anfühlt. Und noch etwas soll auf diese freundliche Weise klar werden: Menschen mit Hörsehbehinderung wollen dazugehören. Sie wollen Kultur und Konzerte ebenso erleben wie andere auch. Sie haben uns etwas zu sagen.
Konzert und Theater St. Gallen leistet das in dieser Saison noch auf einer anderen Ebene. Es hat das «Komiktheater St. Gallen» – eine Theatertruppe für Menschen mit Beeinträchtigung – eingeladen, an einer Inszenierung von Shakespeares «Sturm» teilzunehmen, und es ist ein anarchisches Fest des Lebens daraus geworden. «Sie spielen nicht, sie sind», schreibt die Berichterstatterin des «St. Galler Tagblatts», sie «richten sich ihre Insel ein als einen Ort, an dem jede und jeder einfach sein kann».
Während ich über das Menschsein nachdenke, über Nähe und Freude und über die Barrieren, die wir gern um uns herum bauen, schreitet der Abend voran. Das Sinfonieorchester St. Gallen hat Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 7 d-Moll in Angriff genommen, wundervolle Cellokantilenen berühren meine Seele. Dann ist es fertig, dieses Erlebnis, das lange nachhallen wird. «Was mache ich denn nun mit meinem Ballon», fragt eine Besucherin ihre Begleiterin, während wir die Treppe hinuntergehen. «Ich würde ihn nach Hause nehmen», antworte ich.