Nachdem am Dienstag nach dem Abgeordnetenhaus auch der Senat in Washington einer Anhebung der Schuldendecke verbunden mit massiven Budgetkürzungen zugestimmt hatte, herrschte in Amerikas Hauptstadt alles andere als Euphorie, selbst bei den Siegern nicht. Alle hatten sie am Ende verloren: das Weisse Haus, der Kongress und die Menschen im Lande draussen.
Wie verwöhnte Kinder
Umfragen zeigten, dass ob all dem Gezerre und Gezetter sowohl Präsident Barack Obama als auch Demokraten und Republikaner erneut an Vertrauen und Beliebtheit eingebüsst haben. Einer Umfrage von CNN/Orc zufolge schliessen lediglich noch 17 Prozent der Amerikaner, ihre Politiker würden sich wie Erwachsene benehmen. Dagegen finden 77 Prozent der Befragten, die Abgeordneten und Senatoren in Washington verhielten sich wie verwöhnte Kinder.
Selbst die Tea Party, die sich stolz als Siegerin der unwürdigen Auseinandersetzung sieht, kommt offenbar nicht ungeschoren davon. Laut einer Umfrage des Pew Research Center, die der Londoner „Guardian“ zitiert, ist die Zahl jener Amerikaner im Steigen begriffen, welche die politische Sammelbewegung weniger vorteilhaft einstufen als noch vor der Budgetdebatte im Kongress.
"Gefährliches Territorium" für Obama
Doch das hält den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Newt Gingrich nicht davon ab, die radikale Opposition zur unbestrittenen Beherrscherin der Debatte zu erklären. „Ein sehr linker Präsident hat als erster nachgegeben und das wäre ohne die Tea Party nicht passiert“, hat er auf Fox News erklärt. Vizepräsident Joe Biden äusserte sich weniger vorteilhaft und verglich die Anhänger der Partei bei einem privaten Treffen mit „Terroristen“. Worauf ein amerikanischer Satiriker bemerkte, Ayman al-Zawahiris al-Qaida habe entschieden gegen einen Vergleich mit der Tea Party protestiert und vom Weissen Haus umgehend eine Entschuldigung verlangt.
Indes sinkt Barack Obamas Popularitätsrate gegen 40 Prozent, was Politologen zufolge vor einem Wahljahr „gefährliches Territorium“ ist, besonders angesichts der nach wie vor düsteren Wirtschaftslage mit hoher Arbeitslosigkeit und einem schwachen Immobilienmarkt. Auf jeden Fall ist der Beliebtheitszuwachs, den die Kommando-Operation gegen Osama bin Laden dem Präsidenten im Mai bescherte, längst wieder verpufft.
Mit dem Streit um die Anhebung der Schuldendecke ist Barack Obama erneut auf dem harten Boden der politischen Realität gelandet, von dem er sonst, mit brilliant formulierten Reden, so gerne abhebt. Dies übrigens zur Enttäuschung seiner liberalen Anhänger, die schönen Worten unbequeme Taten vorziehen - zum Beispiel Steuererhöhungen für Reiche und für Grossfirmen wie Ölkonzerne, um die kommenden Budgetkürzungen zumindest teilweise auszugleichen. Der Präsident hat davon erst nach der jüngsten Abstimmung im Kongress erneut gesprochen.
Verantwortungsvoll oder opportunistisch?
Die Meinungen gehen auseinander, weshalb sich Barack Obama im Budgetstreit von radikalen Republikanern und Abgeordneten der Tea Party ohne grosse Gegenwehr hat weich klopfen lassen. Die einen meinen, es sei ihm in erster Linie darum gegangen, um jeden Preis den drohenden Staatbankrott zu vermeiden und damit den USA – und der Welt – weiteres ökonomisches Ungemach zu ersparen. Der Präsident habe verantwortungsvoll und klarsichtig gehandelt. Die anderen mäkeln, Barack Obama habe vor allem an die Wahlen im kommenden Jahr gedacht und daran, dass ein frischer Budgetstreit 2012 seine Chancen auf einen erneuten Einzug ins Weisse Haus, vor allem unter unabhängigen oder unentschlossenen Wählern, hätte schmälern können (die Schuldenobergrenze kommt nun erst 2013 erneut aufs Tapet).
Der Präsident habe sich feige und prinzipienlos verhalten, behauptete der neokonservative Kolumnist John Podhoretz im Boulevardblatt "New York Post". „Falls Barack Obama im (über-) nächsten November verliert, werden wir auf Sonntag, den 31. Juli 2011, als jenen Tag zurückblicken, an dem er zum Präsidenten mit lediglich einer Amtszeit wurde“, frohlockte er.
Krugmann spricht von "Desaster"
Derweil stand Anfang Woche das endgültige Urteil der Rating-Agenturen noch aus, ob die USA auf den Finanzmärkten ihre AAA-Bewertung würden behalten können. Während Moody’s Investors Service und Fitch Ratings am Dienstag grünes Licht gaben, wartete Standard & Poor’s vorerst noch ab. Die Gesellschaft hatte vor der Abstimmung im Kongress verlauten lassen, sie sähe gerne höhere Einsparungen im Staatsbudget als die nun vereinbarten 2,4 Billionen Dollar.
Dagegen ist die Meinung des liberalen Ökonom Paul Krugmann längst gemacht. Die Einigung, schrieb er in seiner Kolumne in der „New York Times“, sei „ein Desaster“ und das nicht nur für den Präsidenten und dessen Partei: „Sie wird einer bereits kranken Wirtschaft weiter schaden; sie wird Amerikas langfristige Schuldenprobleme wohl weiter verschlimmern, statt sie zu lindern; und am Schlimmsten: Indem sie zeigt, dass brutale Erpressung funktioniert und politischen folgenlos bleibt, wird sie Amerika ein langes Stück auf dem Weg in Richtung des Status einer Bananenrepublik führen.“
Langfristig, meint Krugmann, seien die Demokraten aber nicht die einzigen Verlierer. „Was sich die Republikaner soeben erlaubt haben, stellt unser ganzes Regierungssystem in Frage. Wie kann die amerikanische Demokratie funktionieren, wenn jene Partei über die Politik entscheidet, die am ehesten bereit ist, ruchlos zu agieren und die Sicherheit der Wirtschaft der Nation zu gefährden?“ Krugmanns Antwort: „Vielleicht kann sie (die Demokratie) das nicht.“
Dies umso weniger, als der Nobelpreisträger in Barack Obamas Verhalten ein verhängnisvolles Muster zu entdecken glaubt. Der Präsident sei bereits im vergangenen Winter gegenüber den Republikanern eingeknickt, als eine Verlängerung der Steuererleichterungen für Reiche zur Diskussion stand, die George W. Bush seinerzeit durchgeboxt hatte (der Steuernachlass wurde verlängert). Und dann erneut im Frühling, als die Republikaner im Rahmen der Budgetdebatte mit einem „government shutdown“ gedroht hätten.
Obama sammelt Wahlkampfspenden
Und was sagt Barack Obama selbst, der am 4. August im Weissen Haus seinen 50. Geburtstag feierte, zuvor aber noch in seine Heimatstadt Chicago gejettet war, um dort bei einem Dinner unter besonders finanzkräftigen Freunden Wahlkampfspenden für 2012 zu sammeln und zwar 38 500 Dollar pro Kopf ? Im Rosengarten des Weissen Hauses sagte der Präsident, die anfänglichen Einsparungen in der Höhe von 900 Milliarden Dollar seien „ein wichtiger erster Schritt“, um die Regierung zu zwingen, sparsamer zu haushalten (ausserdem sollen innert zehn Jahren weitere 1,5 Billionen Dollar gespart werden, wobei eine 12-köpfige überparteiliche Kommission vorschlagen soll, wo zu kürzen ist).
Barack Obama betonte, das Sparprogramm vermeide allzu tiefe Schnitte, während die Wirtschaft noch schwächle. Auch versprach er, alles zu unternehmen, um die Arbeitslosenrate zu senken, die nach wie vor über 9 Prozent verharrt. „Jeder wird seinen Beitrag leisten müssen“, sagte der Präsident mit Blick auf die Zukunft: „Das ist nur fair. Für dieses Prinzip werde ich in der nächsten Phase dieses Prozesses kämpfen.“ Indirekt schloss der Präsident auch Steuererhöhungen nicht aus.
Düstere Vision
Jedenfalls wird es laut Robert Greenstein vom „Center on Budget and Policy Priorities“, einer unabhängigen Washingtoner Denkfabrik, nicht möglich sein, so massive Einsparungen, wie das neue Gesetz sie vorsieht, durchzuziehen, ohne dass viele Amerikaner schmerzlich davon betroffen werden. Entgegen gängiger Meinung auf Washington Empfängen, schliesst das Magazin „The New Republic“, heisse das nicht einfach, dass gewisse politische Empfindlichkeiten verletzt würden: „Schmerzlich betroffen heisst in diesem Fall, dass künftig mehr Menschen alte Lebensmittel essen, mehr Leute schmutzige Luft atmen, mehr Eltern ihre Kinder vom College nehmen und mehr Menschen ihre Häuser verlieren werden – mit andern Worten, die echten Probleme, unter denen Leute leiden, wenn die Regierung sich nicht mehr angemessen um ihre Interessen kümmern kann.“
In der Tat dürfte das neue Gesetz die variabeln Regierungsausgaben im Innern spürbar reduzieren, wobei diese in den USA lediglich 12 Prozent des Staatsbudgets ausmachen und die einzelnen Posten im Vergleich zu den Fixkosten für Sozialausgaben (Social Security, Medicare und Medicaid) relativ klein sind: Die Ausgaben für öffentlichen Verkehr betragen zum Beispiel lediglich 0,85 Prozent des Haushalts, jene für Erziehung 1,15 Prozent oder jene für Umwelt sowie für Wohnungs- und Städtebau je 1,7 Prozent.
Steuererleichterungen und Militärausgaben tabu?
Dagegen verschlingen allein die Verteidigungsausgaben (ohne Zusatzkredite) in Höhe von über 700 Milliarden Dollar rund 20 Prozent des amerikanischen Staatshaushalts. Hier aber will die republikanische Opposition in Washington keinesfalls sparen oder geschweige denn daran denken, Steuern zu erhöhen. Obwohl es neben der jüngsten Finanzkrise vor allem Präsident Bushs Steuererleichterungen für Reiche sowie die Kosten der Kriege im Irak und in Afghanistan waren, die den Schuldenberg massiv haben wachsen lassen. Die beiden Kriege schlagen mit rund 1,3 Billionen Dollar, der Steuernachlass mit 2 Billionen zu Buche.
Amerikas Politiker, schliesst ein Psychologe der Florida State University, würden ihren Wählern einreden, sie könnten ein immer besseres Leben haben, ohne dafür bezahlen zu müssen – ein Erbe der Reagan-Jahre, als der Ökonom Arthur Laffer die These postulierte, Steuersenkungen würden dem Staat mehr Einnahmen bescheren, weil Firmen und Individuen dann mehr Geld ausgeben könnten. Die These, so der Professor, sei längst widerlegt, aber die Leute glaubten sie noch immer.
Diagnose: Narzissmus
Dem Autor Daniel Altman zufolge glauben die Amerikaner nach wie vor, ihr Wirtschaftssystem sei das beste der Welt, obwohl sie es vernachlässigten, in jene Bereiche zu investieren, die eine produktive Gesellschaft ausmachen: „Bildung, Infrastruktur und wissenschaftliche Forschung“. Altman nennt in einem Artikel für „The Daily Beast“ das heutige Amerika die „Vereinigten Staaten des Narzissmus“.