Dominic Nahr kehrt an die Orte des Schreckens in Afrika wieder und wieder zurück. Manchmal geschieht dies im Auftrag einer renommierten Zeitschrift, oft aber reist er von sich aus. Schon dadurch unterscheidet er sich von Kollegen, die sich rasch in Kriegs- oder Katastrophengebiete transportieren lassen, die gewünschten Bilder produzieren und ebenso rasch verschwinden, wie sie gekommen sind.
Beobachter und Helfer
Die innere Haltung von Dominic Nahr ist eine andere. Ihn berührt das Leid in seinem Inneren; er betrachtet es nicht nur. Tagelang kann er vor Ort sein, ohne seine Kamera zu benutzen. Wieder und wieder hilft er den Menschen, die sich in Not befinden.
Es gibt ein Bild in der Ausstellung, das auf den ersten Blick nicht verrät, welche Schrecken in ihm gespeichert sind. Es stammt aus dem Südsudan. Eine Afrikanerin steht mit ihren Kindern in halbhohem Wasser. Auf dem Kopf trägt sie alles, was ihr noch geblieben ist.
Aus Anlass der Medienpräsentation dieser Ausstellung erzählte Dominic Nahr, dass es sich um ein Sumpfgebiet handelt. Frauen und Kinder – ihre Männer sind entweder im Krieg oder schon tot – fliehen in die Sümpfe, um sich dort zu verstecken. Um ein Foto davon zu bekommen, stieg Dominik Nahr selbst in das kalte Wasser und spürte sofort, wie sich eine Schlange an ihn heranmachte.
Während er fotografierte, bedrängte ihn eine Frage: Wann habe ich genug Bilder, um mit dem Fotografieren aufzuhören und diesen Menschen zu helfen?
Auf der Flucht
Ein anderes Bild des Schreckens zeigt eine schier endlose Menschenschlange. Das sind Flüchtende in der Demokratischen Republik Kongo, die ihr gesamtes Hab und Gut mit sich schleppen. Er sei, erzählt Dominic Nahr, in den vergangenen Jahren wiederholt an diesem Ort gewesen, und immer seien dort Flüchtende. Mal bewegen sie sich in die eine, mal in die andere Richtung. Ein Fotografenkollege habe sogar eine Frau wiedererkannt, die er vor Jahren dort das erste Mal gesehen habe.
Dominik Nahr gehört ganz sicher zu den herausragenden jungen Fotografen unserer Zeit. Er ist 1983 in Heiden im Appenzellerland geboren und wuchs in Hongkong auf. Mit 22 Jahren fotografierte er für eine Hongkonger Zeitung tagelang gewaltsame Massenproteste. Angezogen von der Intensität der Ereignisse und ihrer historischen Tragweite, wurde er zum engagierten Augenzeugen und Chronisten. 2009 verlegte er seinen Wohnsitz nach Nairobi, Kenia, und konzentriert sich seitdem auf den afrikanischen Kontinent.
Nahr trat Magnum Photos 2010 als Nominee bei und wurde ein Jahr später fester Mitarbeiter des Time Magazine. Zusätzlich fotografiert er unter anderem für das National Geographic Magazine, The New Yorker, Stern, Neue Zürcher Zeitung, Schweizer Illustrierte und Médecins Sans Frontières. Nahr erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter einen World Press Photo Award, Pictures of the Year Awards, einen Oskar Barnack Newcomer Award, Swiss Press Photo Awards, einen Magnum Foundation Emergency Fund und einen Marty Forscher Fellowship Fund for Humanitarian Photography. 2015 wurde er mit dem Titel Schweizer Fotograf des Jahres von der Swiss Photo Academy in Zürich ausgezeichnet. Seine Fotografien sind weltweit in zahlreichen Einzelausstellungen zu sehen.
Nähe
In irgendeinem Verliess in der Demokratischen Republik Kongo stiess er während des endlosen Bürgerkriegs auf verängstigte Menschen und machte von ihnen ein Bild, das grösste Anteilnahme ausdrückt. Wie kommt er den Unglücklichen so nahe? Dominik Nahr verwendet nicht die üblichen voluminösen Reportagekameras, sondern die wesentlich kleineren digitalen Leica-M-Kameras. Da gibt es so gut wie keine Automatik, und er muss die Entfernung selbst einstellen, und die meisten Menschen glauben, es handele sich noch um Kameras mit Filmmaterial. Mit dieser Ausrüstung wird er nicht als internationaler Agenturfotograf wahrgenommen, der nach möglichst sensationellen Bildern giert, sondern eher als ein Beobachter und Zeitgenosse, der hin und wieder auch einmal ein Foto macht.
Das Können von Dominic Nahr ist ebenso so gross, wie sein Ethos stark ist. Er setzt sich schwierigsten Situationen aus. Aber er ist auch für die hellen Seiten der Regionen empfänglich. So fühlt er sich von Mali deswegen besonders angezogen, weil er dort noch die Reste der französischen Kultur spürt. Daraus entstehen Färbungen im Alltag, die ihn besonders ansprechen.
Gegen die Gleichgültigkeit
Die Zeiten, in denen man in der Fotografie ein Mittel gegen die Wiederholung von Greueln und Gewalt sehen konnte, sind schon lange vorbei. Wenn manche Kriegsfotografen das heute noch allen Ernstes behaupten, sind sie im besten Falle Phrasendrescher, im schlimmeren Fall Heuchler. Die Bilder von Dominic Nahr aber können die Betrachter wieder und wieder daran erinnern, dass das Leid kein fernes Abstraktum ist, sondern die Seelen lebendiger Menschen ebenso zerfrisst, wie es auch uns treffen würde. Das in sich zu spüren, macht die Welt nicht automatisch besser, aber es öffnet eine Bresche in der Kälte der Gleichgültigkeit.
Insofern hat der Titel der Ausstellung, „Blind Spots“, noch einen weiteren als den ursprünglich intendierten Sinn. Die Kuratoren Peter Pfrunder und Sascha Renner zielten mit dem Titel auf die Tatsache, dass grosse Teile Afrikas aus der medialen Wahrnehmung verschwunden sind. „Blind Spots“ kann aber zusätzlich die Abstumpfung meinen, die uns Westler daran hindert, das Leiden Afrikas so ernst zu nehmen und zu fühlen, als wenn es unser eigenes wäre.
Dominic Nahr – Blind Spots, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, Winterthur, 20. Mai bis 8. Oktober 2017, kein Katalog