Von ökonomischen Tieffliegern wie Roger Köppel, der die letzte Weltfinanzkrise mit der Lachnummer «la crise n’existe pas» seines Provinzblattes begrüsste, bis hinein in die höchsten Sphären der sogenannten Finanzwissenschaften ist man sich einig: Der Markt regelt alles. Das freie Spiel der Marktkräfte garantiert Wohlstand, Fortschritt und Prosperität. Die «unsichtbare Hand» des Marktes, zuerst von Adam Smith 1776 beobachtet, fügt alles zum Besten für alle.
Wo gute Kräfte walten, lauert auch immer das Böse. Zuvörderst der Gottseibeiuns «zentral gelenkte Planwirtschaft». Dieser Teufel ist aber mitsamt seiner Hölle Sowjetunion sang- und klanglos untergegangen, worauf die Apologeten der freien Marktwirtschaft in Hosianna- und Jubelgesänge ausbrachen, gar das Ende der Geschichte verkündeten. Milton Friedman, der grosse Prophet aller Neo- und Ortholiberalen, konnte triumphieren.
Kleiner Knacks im Gebäude
Friedmans Jünger, die sogenannten «Chicago Boys», vollbrachten in den 1970er Jahren unter der Pinochet-Diktatur das «Wunder von Chile», wie das der Nobelpreisträger nannte. Einführung der ungezügelten Marktwirtschaft in einer Diktatur, Entfesselung der Marktkräfte, Reduzierung des Staates auf eine Nachtwächterfunktion, das brachte wirtschaftlichen Aufschwung, Wachstum, Wohlstand für alle. Weniger gerne wird in dieser Märchenstunde erwähnt, dass die Umsetzung der Ratschläge der «Chicago Boys» zu einer schweren Wirtschaftskrise, zum Zusammenbruch des chilenischen Bankensystems und einem heillosen Desaster führte. Worauf dann die Friedman-Jünger von Pinochet hochkant aus dem Andenstaat rausgeschmissen wurden.
Grösserer Knacks im Fundament
Die auf Friedmans Rat hin erfolgte Abschaffung der festen Wechselkursbindung des Dollar nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und die von seiner Jüngerin Maggie Thatcher in Grossbritannien umgesetzte Entfesselung des Finanzmarkts waren auch nicht gerade erfolgreich oder wohlstandsfördernd. Aber Heilslehren haben es nun mal an sich, dass sie an und für sich gut und perfekt sind, in ihrer Umsetzung aber nicht zuletzt durch menschliche Schwächen bedingt Stückwerk, unvollkommen und verbesserungsbedürftig bleiben. Deshalb leben wir bis heute nicht in der besten aller Welten.
Hochmut und tiefer Fall
Anfang des neuen Jahrtausends waren wir aber mal fast dort. Im virtuellen Raum namens Internet sollten unsichtbare Gelddruckmaschinen stehen, die nach dem Platzen der Dotcom-Blase problemlos durch andere virtuelle Gelddruckmaschinen ersetzt wurden. Diesmal standen sie in der bunten Welt des modernen High-tech Financial Engineering, wo mit Wunderprodukten wie Strukis, Futures, Derivaten und Fonds ganze Geldgebirge aus dem Nichts hervorgezaubert wurden. Die Politik, der Staat, der Gesetzgeber sollten sich da raushalten und die Banker nicht dabei stören, viel Gewinn für sich selbst und wenig Profit für die Allgemeinheit herzustellen, trompeteten die Apologeten möglichst enthemmter Märkte. Die wunderbare Deregulierung der Finanzmärkte, das endlich entfesselt-freie Spiel der Marktkräfte, noch nie waren wir dem Paradies so nahe.
Der Himmel stürzt ein
Da aber weder in einer sozialistischen Planwirtschaft noch in einer liberalen Marktwirtschaft Geld aus dem Nichts entsteht, sondern lediglich umverteilt werden kann – beispielsweise durch den grössten Bankraub aller Zeiten, auch als Finanzkrise 1 bekannt –, fielen die Jünger des freien Spiels der Marktkräfte ab 2008 in eine schwere Glaubenskrise. Der von ihnen abgelehnte, ja gehasste Staat musste einspringen und auf Kosten der Steuerzahler Banken, die wanken, vor dem Abgrund retten. Putzig waren die Verrenkungen, die leidend hingequälten Erklärungsversuche, wieso freie Marktwirtschaft im Prinzip gut und richtig und ideal sei, aber nun, räusper, in Ausnahmefällen, hüstel, unter besonderen Umständen, ächz, angesichts der schrecklichen Alternativen, schluck, halt doch gerettet werden müsse, was wohl besser zum Teufel gegangen wäre.
Markt als Monster
Seither tun die Anhänger der freien Marktwirtschaft das, was alle Anhänger einer Heilslehre tun, wenn es um Sünden der Vergangenheit geht: Einfach nicht drüber reden, ignorieren, Schwamm drüber. Und der genialen Vorgabe von Radio Eriwan folgen: Freie Marktwirtschaft? Im Prinzip ja, aber. Doch damit ist das Scheitern dieser Ideologie natürlich noch nicht zu Ende erzählt, denn in der aktuellen Finanzkrise bekommt der Markt ein ganz neues Gesicht, eine Fratze gar: Er wird zum Monster. Sagen immer mehr Liberale. Er treibt die armen europäischen Regierungen vor sich her, er testet die Stabilität von Rettungsschirmen, von ganzen Staaten, er vertraut oder misstraut, er wird nervös, ja manchmal sogar hektisch, reagiert – um Himmels willen – häufig sogar irrational. In einem Satz: Der Markt, das unbekannte Wesen, treibt sein bekanntes Unwesen. Heilsbringer und Monster, Gott und Teufel zugleich, ein richtiger Dr. Jekyll and Mr. Hyde, der Markt, dieser schizophrene Schlingel.
Kann der Markt spielen?
Die liberale Ideologie des freien Spiels der Märkte krankt zudem, abgesehen von ihren unzähligen Sündenfällen, an einem grundlegenden erkenntnistheoretischen Widerspruch. Wer das freie Spiel der Marktkräfte postuliert, was alles bestens regle, geht unsinnigerweise davon aus, dass es sich beim Markt um ein mit Bewusstsein ausgestattetes Wesen handle, das mit unsichtbaren Händen und mit Absicht den Austausch von Produkten oder Dienstleistungen optimiere. Das ist natürlich barer Schwachsinn, denn der Markt ist nichts weiter als eine von Menschen erfundene Handelsplattform, die keine Hände, kein Bewusstsein und keine eigenen Kräfte besitzt. Und spielen kann der Markt schon gar nicht. Werden auf einem Marktplatz am Abend die Stände geschlossen, dann geht der Markt nicht nach Hause und ruht sich aus. Er wäscht auch nicht seine unsichtbaren Hände in Unschuld oder spielt mit sich selbst. Sondern dann ist er weg, der Markt. Spurlos verschwunden.