Gewürdigt wird damit auch sein unermüdlicher Einsatz für die Aufführung der rund 250 geistlichen und weltlichen Kantaten, Messen, Oratorien und Passionen Johann Sebastian Bachs.
«Nein, das will ich eigentlich nicht ...», sagte Rudolf Lutz vor rund zwanzig Jahren, als Konrad Hummler ihm vorschlug, sich für längere Zeit intensiv mit den Kantaten von Johann Sebastian Bach zu beschäftigen. Rudolf Lutz ist Pianist, Organist, Dirigent, Komponist … Konrad Hummler dagegen war damals Chef der Privatbank Wegelin und ahnte noch nicht, dass die US-Finanzbehörden seiner Bankiers-Laufbahn und der Bank Wegelin ein paar Jahre später ein abruptes Ende bereiten würden.
Für Lutz war Bach damals ein Meister unter vielen neben Brahms und Beethoven. Als Musikstudent hatte Lutz sich zwar mit Bach abgemüht, zunächst aber nicht so recht Feuer gefangen. «Ich wollte doch auch meinen Jazz weiterführen, Liedbegleitungen, Kammermusik, Volksmusik und diese Sachen.» Rudolf Lutz zählt eine Vielzahl von Musikbetätigungen auf, die ihm alle auch am Herzen lagen – und noch immer liegen. Hummlers Idee liess ihn aber nicht los. «Dann habe ich gedacht, naja, man spricht ja von den Bach-Kantaten als von einem Gebirge mit vielen, vielen unbekannten Gipfeln.» Und so entschied er sich für den langen Weg hinauf zum Gipfel. Für den langen Weg zu Bach. «Nach inzwischen 130 Kantaten kann ich nur bestätigen, was Kenner über Bach sagen: dass er nämlich einer der Grössten ist.»
Erfüllung einer Lebensaufgabe
Und jetzt sitzen wir auf den Stufen der Kirche Trogen, auf der linken Seite, nicht vorn am Haupteingang, wo sich das Publikum bereits für das Konzert versammelt. Ein paar Minuten Zeit hat Lutz noch, dann sagt er: «Für mich ist Bach die Erfüllung einer meiner Lebensaufgaben.» Ein grosses Wort, das er da so unpathetisch ausspricht. Es ist einfach so. «Nach 13 Jahren ist mein Interesse immer ein bisschen grösser geworden und ich warte jeden Monat darauf, die nächste Kantate zu erarbeiten. Dabei bin ich immer wieder erschüttert über die Inventionskraft von Bach und seine Einfühlung in den theologisch-liturgischen Inhalt.»
Dann erinnert er sich an seine ersten Begegnungen mit Bach. «Wenn man Klavierstunden nimmt, beginnt man mit Tonleitern und kleinen Stücken, spielt mal einen kleinen Mozart oder etwas von Bach. Wer begabt ist und hartnäckig dranbleibt, kommt irgendwann zu den Inventionen, das gehört zur Ausbildung, das war schon zu Beethovens Zeiten so. Und dann gibt’s vielleicht mal was aus dem ‘Wohltemperierten Klavier’. Also diesen ganzen normalen Ablauf habe ich auch durchgemacht. Meine Grossmutter mochte Bach nicht so sehr und bezeichnete das Cembalo als «knitting needles», also als Stricknadeln … sie liebte Händel viel mehr. Von Zuhause aus hatte ich also keine engere Beziehung zu Bach aufbauen können.» Statt Cembalo spielte Lutz viel lieber Orgel. Das grosse Instrument hatte es ihm schon als Bub angetan, womit er unweigerlich auch bei Bach gelandet ist.
Bach hat ein, zwei Qualitäten mehr …
In der Kirche haben inzwischen alle Platz genommen, Kameraleute und Tontechniker sind parat, denn der gesamte Zyklus der Bach-Kantaten wird in Bild und Ton dokumentiert und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Das war von Anfang an der Wunsch Konrad Hummlers, des Bankiers, der im Gegensatz zu Rudolf Lutz, dem Musiker, schon früh eine enge Beziehung zu Bach hatte. «Als ich elf war, habe ich als Knabensopran in der evangelischen Kirche St. Gallen mitgesungen. Bei der Matthäus-Passion hat es mich dann richtig gepackt und ich wusste, Bach wird mich weiter beschäftigen. Ich habe Geige gelernt und im Kanti-Orchester Bach gespielt und ich wusste, Bach ist ein Komponist, der ein, zwei Qualitäten mehr hat als viele andere. Dann lernte ich Rudolf Lutz kennen. Er sagte, er müsse am Konservatorium Basel Chorunterricht erteilen und seine Studenten möchten die Matthäus-Passion aufführen. Lutz wollte das aber nicht in Einzelproben üben, sondern eine Woche lang auswärts, kompakt am Stück. Er meinte, ich könnte das mit der Unterkunft doch organisieren … da habe ich gesagt, ja, aber dafür will ich auch mitsingen, samt meiner Frau!» Daraus hat sich schliesslich die langjährige Zusammenarbeit zwischen Hummler und Lutz ergeben. «Die Gesamtaufführung des Vokalwerkes von Bach war ein grosser Wunsch. Jetzt sind wir über die Hälfte hinaus, es vervollständigt sich. 2027 ist es fertig», so Hummler.
Hat sich die Sicht auf Bach im Laufe der Jahre verändert, frage ich beide. «Ursprünglich ist bei mir als Amateurgeiger die analytische oder fast mathematische Seite von Bach im Vordergrund gestanden», sagt Hummler. «Jetzt entdecke ich immer mehr die empathische Seite. Mit empathisch meine ich Bachs Präzision der musikalischen Aussage auf den Text bezogen.» Das sieht Rudolf Lutz ganz ähnlich. «Ich habe Bach ja zuerst für seine grossartigen Chor- und Orchesterwerke sowie für die Klavier- und Orgelwerke bewundert. Und inzwischen ist mir seine grosse dramatische Begabung aufgefallen. Er ist in der Lage, diese Kantatentexte in eine Kette von Musikstücken zu kleiden, ja geradezu ein theologisches Drama in der herrlichsten Art und Weise darzustellen. Ich kenne kein Gefühl, keinen Affekt, den Bach nicht in irgendeiner Art verwoben hat: Liebesraserei oder die Wut auf Judas, das könnte man sofort in ein Shakespeare’sches Drama einsetzen.»
Fachkundig und launig
Um auch dem Publikum Gelegenheit für solche Einsichten ins Bach-Werk zu geben, werden die Kantaten gleich zweimal am selben Abend aufgeführt. Zuerst gibt es eine musikalische Einführung durch Rudolf Lutz: fachkundig und launig zugleich und mit Hilfe eines Notenblatts, auf dem er seine Erklärungen von Hand eingezeichnet hat. Hinzu kommt eine theologische Einführung von Fraumünster-Pfarrer Nikolaus Peter, der ebenfalls zum Team gehört. Auch er: fachkundig und launig zugleich. Dann gibt’s schon mal einen kleinen Apero, bevor es von der Theorie zur Praxis geht und die Kantate ein erstes Mal erklingt.
Mit diesen Klängen im Ohr geht’s weiter zur «Reflexion». Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen philosophieren zum jeweiligen Kantatentext ganz persönlich und aus heutiger Sicht. In unserem Fall war es Christoph Drescher, der Intendant der «Thüringer Bachwochen», die kurz zuvor zu Ende gegangen waren. Keine Predigt, keine salbungsvollen Worte, stattdessen Denkanstösse, auf die man vielleicht von selber nicht gekommen wäre. Und noch einmal erklingt dann die Kantate. Es ist die gleiche wie vorher, und doch hört man sie jetzt ganz anders. Wunderbar!
Ein HSG-Manager für Bach
Ergänzt wird das Leitungsteam der Bachstiftung durch Xoán Castiñeira. Der Name führt nach Spanien. Xoán Castiñeira kommt aus Galicien und ist Geschäftsführer der J. S. Bach St. Gallen AG, und damit der operativen Tochterinstitution der J. S. Bach-Stiftung.
Wie hat es ihn als Spanier denn ausgerechnet zu Johann Sebastian Bach und nach St. Gallen verschlagen? «Naja, ich bin mit dem wohltemperierten Klavier aufgewachsen», lacht er. «Und mit Glenn Gould», fügt er noch bei. «Als Kind fand ich die Präludien beim Klavierlernen schrecklich, bis ich eine Plattenaufnahme mit Glenn Gould hörte, die bei uns zuhause so herumlag. Ich habe das Stück zuerst überhaupt nicht wiedererkannt. Wie kann das so klingen ...? Na gut, dachte ich, da muss ich mich mit dieser Musik auseinandersetzen. Der nächste Schritt war für mich ein Quantensprung: die Goldbergvariationen. Das war für mich ein Mythos und ist es bis heute geblieben.» Castiñeira erhielt eine Klavierausbildung in Deutschland, London und Amerika, lernte so nebenbei fliessend die entsprechenden Sprachen, studierte Musikwissenschaft, rutschte in ein Praktikum bei «Deutsche Grammophon» und fand so den Weg ins Kulturmanagement. 2018 absolvierte er darüber hinaus auch noch das Executive MBA an der HSG.
Bei einem Zufalls-Besuch in der Schweiz stiess Castiñeira auf eine Ausschreibung der Bachstiftung. «Gesucht wurde jemand mit Erfahrung im Bereich Teleproduktion, Marketing und mit musikalischem Hintergrund. Ich bewarb mich und wurde angestellt.» Und sein eigenes Klavierspiel? Hat er das nun aufgegeben oder ins private Wohnzimmer verbannt? «Nein, nein, überhaupt nicht», sagt er lächelnd. «Ich gebe immer mal wieder Konzerte, auch hier im Rahmen der J. S. Bach-Stiftung. Natürlich spiele ich nicht so oft, wie ich mir das wünschen würde, aber mein Posten ist eine wunderbare Kombination all dessen, was ich studiert habe.» So sorgt er nun dafür, dass die Kasse zwischen der Stiftung und der Tochterorganisation stimmt.
Die J. S. Bach St. Gallen AG organisiert die Appenzeller Bachtage, aber auch internationale Konzerte. «Nächstes Jahr wird Japan ein Thema sein, Leipzig ebenfalls und daneben gibt es auch noch die ganze verlegerische Tätigkeit. Wir machen die Aufnahmen, wir verwerten sie in dem Sinne, dass wir Vermittlungsprojekte finanzieren, wie zum Beispiel auch ‘Bachipedia’, wo alle Aufnahmen kostenlos zugänglich sind.»
Konzerte, wie die monatlichen Bachkantaten, wären nur über den Ticketverkauf, ohne finanziellen Hintergrund, nicht machbar. «Unsere Preise sind moderat», sagt Castiñeira, «Es ist uns wichtig, dass jeder kommen kann, der Interesse hat. Für 10 CHF bekommt man nicht den besten Platz, aber man kommt ins Konzert. Die Anzahl Plätze in der Kirche ist auf circa 300 beschränkt. Wenn wir mehr Plätze hätten, könnten wir auch mehr Tickets verkaufen. Die Nachfrage ist da.»
Eine Bach’sche Oper …?
Rudolf Lutz wird sich also noch einige Jahre mit den Bach-Kantaten beschäftigen können. Und so ein bisschen würde es ihn daneben auch reizen, Bach von einer anderen Seite her aufzuziehen. Das Dramatische in seiner Musik, das hat Lutz ja schon betont, das könnte man vielleicht auch mit anderen Texten unterstreichen. Dann könnte so etwas wie eine Oper dabei herauskommen. Eine Oper, die Bach nie geschrieben hat. «Vielleicht hat er das gar nicht gewollt», sagt Lutz. «Ich habe mir das natürlich auch überlegt. In Hamburg hätte Bach vielleicht ins Opernfach einsteigen können, vielleicht hätte er es auch gemacht unter anderen Umständen. Ich bin überzeugt davon, dass man aus Bach’schen Werken eine Oper zusammenstellen könnte … man müsste die Texte ändern, das wär’ ja möglich, ausserdem brauchte man noch einen tollen Librettisten, der dann sagt: hier muss eine Wut-Arie rein oder dort ein Versöhnungslied, und der Papa macht seiner Tochter klar: diesen Schelm wirst du mir nicht heiraten! Solche Überlegungen sind durchaus in meinen Gedankengängen vorhanden.»
Zeit hätte er momentan allerdings nicht dafür. Zumindest nicht bis 2027, wenn die letzte Kantate erklingt.