Der Siegeszug der marokkanischen Fussballmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Katar, der sie bis in den Halbfinal führte, wurde in der deutschsprachigen Öffentlichkeit vielfach mit negativen Kommentaren begleitet. Eine wichtige Rolle spielen dabei Gesten und Symbole.
Im Hintergrund wirkt ein Deutungsrahmen, der seit der Kölner Silvesternacht 2015/16, als es im Bereich von Hauptbahnhof und Dom zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch Gruppen junger Männer vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum kam, die Berichterstattung über «Nordafrikaner» prägte. Ergänzend rahmen Bilder terroristischer Gewalt, die von Menschen mit einem biographischen Bezug zu Marokko 2015/16 in Paris und Brüssel 2015/16 verübt wurde, diese Deutung. Der «nordafrikanische Mann» wurde nun zum Stereotyp und zur Schablone, mit der jedes Geschehen, bei dem Marokkaner involviert sind oder nur scheinen, gedeutet wird.
Der Kuss
Einen besonderen Akzent legt dabei der in Berlin lebende Autor Ahmad Mansour auf den psychologischen Aspekt. In einem Tweet formulierte er zu einem Bild, das einen marokkanischen Spieler zeigt, wie dieser die Stirn seiner Mutter küsste: «Bei aller Liebe zu den Müttern weltweit: Diese Verehrung, man kann es schon als Unterwerfung bezeichnen, gegenüber den Müttern der marokkanischen Spieler ist Ausdruck patriarchalischen Denkens und Erziehungsmethoden und muss psychologisch kritisch betrachtet werden.»
Mansour, der Psychologie studiert hat, stellt klar, dass er diese Geste als Ausdruck des Islam versteht: In seiner Lesart bedeutet Islam unmissverständlich «Unterwerfung». Damit sei der Akt der Verehrung der Mutter, den der marokkanische Spieler gezeigt habe, eigentlich ein Akt des Bekenntnisses zum Islam. Schliesslich gehöre zum Schulbuchwissen, dass der Begriff Islam eigentlich «Unterwerfung» bedeute. Tatsächlich wurde das Wort schon im europäischen Spätmittelalter in diesem Sinne verstanden, doch spiegelt diese Übersetzung nur das damalige vorherrschende Verständnis wider. In früheren Zeiten, vor allen in Zeiten der koranischen Offenbarung selbst, bezeichnete «Islam» sachlich einen Prozess der Läuterung und Reinigung, und nicht der Unterwerfung. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nun geht Mansour noch einen Schritt weiter, indem er diese «männliche Haltung» zum Kern einer maghrebinischen islamischen Persönlichkeit macht. Die Behauptung, marokkanische Männer seien durch eine patriarchalisch vermittelte Mutterliebe ausgewiesen, ist auf der Ebene der Konzepte wie aufgrund empirischer Forschungen schlicht Unsinn. Die Aussage spiegelt völlig veraltete völkerpsychologische Annahmen wider, die um 1850 von «Geisteswissenschaftlern» wie Moritz Lazarus und Heymann Steinthal entwickelt wurden. Sozialanthropologische Forschungen zu Marokko haben gezeigt, dass es keinerlei ethnisch bestimmte Ausprägung kultureller Werte und Einstellungen gibt und dass die grosse Wertschätzung der Frau besonders unter berberischen Gemeinschaften (Imazighen) verbreitet ist. Wie zum Beispiel die marokkanische Frauenrechtsorganisation La Voix de la Femme de Amazigh betont, teilen Frauen in mazighischen («berberischen») Gemeinschaften im Prinzip die Entscheidungsmacht mit den Männern; die Verwestlichung der urbanen Kulturen hat jedoch dazu geführt, dass sich auch unter Imazighen neue männliche Rollenbilder herausgebildet haben, die die Frauen aus ihrer traditionellen Rolle herausdrängten. Ein ähnlicher Prozess findet sich auch unter arabischsprachigen Gemeinschaften.
Die bekundete Wertschätzung von Frauen ist so nicht durch patriarchalische Strukturen determiniert, sondern eine Erinnerung an frühere Rollen der Frauen in der Gemeinschaft. Mit rebellischem Verhalten von Jugendlichen, die sich mit einer marokkanischen Identität ausgestattet sehen und mit ihr eine Protesthaltung in Randale übersetzen, hat das Küssen der Stirn einer Marokkanerin durch einen marokkanischen Fussballer nichts zu tun. Die rebellische Randale ist eher das Produkt eines tiefgreifenden sozialen Wandels, der die tradierten sozialen Bezüge völlig auf den Kopf gestellt hat.
Der Zeigefinger
Nicht nur in den Medien aus dem Umfeld des Springer-Verlags wurde eine andere Szene mit marokkanischen Fussballern zu einem Skandalon aufgebaut: Gezeigt wurden Fotos, auf denen zu sehen ist, wie drei Spieler der marokkanischen Equipe mit dem erhobenen Zeigefinger ihren Sieg feierten. Nun waren sich die Redakteurinnen von Welt und Bild sicher, dass diese Geste Ausdruck eines islamischen Extremismus ganz im Stil des «Islamischen Staats» sei. Und so war der Weg nicht mehr weit, die marokkanischen Spieler zu Sympathisanten des «Islamischen Staats» zu machen. Geadelt wurde diese Deutung durch einen Kommentar in den Tagesthemen des Ersten Deutschen Fernsehens und durch eine entsprechende Aussage des islamkritischen Politologen Hamed Abdel-Samad in der Zeit.
Nun ist es tatsächlich so, dass der erhobene Zeigefinger Teil einer islamischen Ritualordnung sein kann. Dabei gilt es als fromme Praxis, im islamischen Gebet bei der Passage des Glaubensbekenntnisses, die sich auf das Bekennen der Einheit Gottes bezieht, den Finger zu heben. Diese Geste gilt nicht als Ritualpflicht. Uneinigkeit unter muslimischen Experten der Ritualpraxis besteht hinsichtlich der Frage, bei welchem Teil des Bekenntnisses der Finger erhoben werden soll und damit, welche spezifische sprachliche Bedeutung mit dieser Geste verbunden ist. Funktional und sachlich entspricht der religiöse Gehalt der Geste dem des christlichen Bekreuzigens.
In einer korrigierenden Stellungnahme sprachen die Medien des Springer-Verlags dann davon, dass die Geste vom Islamischen Staat «angeeignet» wurde und dass natürlich nicht klar sei, ob die drei marokkanischen Spieler tatsächlich auf den IS verweisen wollten. Von dem islamischen Framing wollte man nicht abrücken, obwohl gerade unter Sportlerinnen und Sportlern die Geste mit dem Zeigefinger ganz unabhängig von ihrer kulturellen Selbstverortung verbreitet ist. Man denke nur an so manchen Fussballer, der nach einem erfolgreichen Torschuss seinen Triumph mit dem Zeigefinger zu markieren sucht. Damit ähnelt die Geste funktional ziemlich der geballten Faust zum Beispiel bei Tennisspielern, wenn sie einen Punkt gemacht haben.
Auch in den islamischen Welten ist der erhobene Zeigefinger jenseits aller religiösen Zuordnung eine profane, weit verbreitete und konventionelle Geste, die Tadel, Scherz, Belehrung, Warnung, Mahnung oder eben Triumph bedeuten kann. Doch in dem Moment, wo die Geste von marokkanischen Spielern gezeigt wird, tritt diese Profanität in den Hintergrund. An ihrer Stelle entfaltet sich die Wirkung einer Rahmung, mit der gerne ein Geschehen gedeutet wird, wenn sich ein «Islambezug» vermuten lässt. Da diese Rahmung wiederum durch Konzepte wie «politischer Islam» oder «islamischer Extremismus» gestützt wird, wird die gezeigte Geste nicht nur als «islamisch» gedeutet, sondern eben der Welt finsterer islamischer Radikalität zugeordnet.
Die Fahne
Noch weiter verstärkt wird diese Rahmung dadurch, dass als weiteres Element die palästinensische Fahne hinzugefügt wird. So wurden Fotos gezeigt, auf denen zu sehen ist, wie Fans sich mit einer Flagge von Palästina einhüllen und zugleich den Zeigefinger erheben. In Kommentaren wurde das Gezeigte als Ausdruck antisemitischer Überzeugung gedeutet, die auf einer demonstrierten Zugehörigkeit zum islamischen Extremismus beruhe. Die Gleichsetzung des Zeigens der palästinensischen Fahne mit Antisemitismus stellt die hoch problematische Verkürzung eines komplexen Sachverhalts dar. Die Bekundung einer Solidarität mit Palästina durch arabische Fans ist vornehmlich zu verstehen als Symbolisierung einer Rolle als «Underdog», der sich gegen eine Übermacht zu wehren versteht, ja diese Übermacht sogar besiegen kann. Die palästinensische Fahne hat – wie in den 1970er Jahren das sogenannte Palästinensertuch – schon längst Palästina verlassen und ist zu einem ubiquitären Symbol für einen sich befreienden Underdog geworden. Auf den Fotos wird also zunächst nichts anderes bekundet als der Triumph des Underdogs Marokko. Es ist wenig wahrscheinlich, dass hier der Sieg Marokkos als Teil eines antiisraelischen, antisemitischen islamischen Extremismus abgefeiert wurde. Tatsächlich vermerkte ein Kommentator auf Twitter zu dem gezeigten Bild: Es fehle doch «der Vollbart der Islamisten». Nicht von der Hand zu weisen ist, dass die palästinensische Fahne heute auch als Symbol eines panarabischen «nationalen Stolzes» genutzt wird, der bei manchen tatsächlich mit einer antisemitischen Gesinnung verbunden ist.
Die Rahmung
Die drei Elemente Kuss, Zeigefinger und Fahne lassen sich zu einer Collage zusammenfügen. Diese zeigt nicht nur die Wirkungsmacht antiarabischer Ressentiments, sondern auch der Rahmung, mit der Ereignisse und Geschehen, die einen Islambezug zu haben scheinen, berichtet und gedeutet werden. Mit erhobenem Zeigefinger und voller patriarchalisch gestifteter Mutterliebe, so könnte die Collage besagen, würden marokkanische IS-Fans aus antisemitischem Geist für Palästina jubilieren und die Kulturstadt Paris gleich mitdemolieren. Angesichts dieses Befunds wäre es angebracht, die Rahmung einer solchen Berichterstattung intensiv zu überdenken.