Im Roman «M. Die letzten Tage von Europa» zeichnet Antonio Scurati das Bild Italiens an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg. Es ist auch das Bild einer Diktatur, deren beherrschende Figur Mussolini in seiner Heimat noch immer ihre Verehrer hat – wie Scurati selbst kürzlich hat erfahren müssen.
Noch am Morgen dieses 10. Mai 1940 ist Mussolini unschlüssig gewesen: Welche Uniform soll er anziehen an diesem schicksalhaften Tag? Vor dem Spiegel hat er seine Rede geübt, hat seine nackten Beine betrachtet und festgestellt, dass er langsam dick wird, «egal, wieviel Gymnastik er macht». Er hat sich zum Palazzo Venezia fahren lassen, um 15 Uhr kommt Claretta Petacci, die Geliebte, zum obligaten Liebesstündchen. Das Volk ist auf 18 Uhr bestellt. Und es strömt herbei, jubelt, wie es sich gehört. Es weiss, was kommt, als er sagt: «Eine vom Schicksal bestimmte Stunde hat unserem Vaterland geschlagen.» Es ist die Kriegserklärung an Frankreich und England, es ist der Kriegseintritt in den Zweiten Weltkrieg an der Seite Hitlerdeutschlands.
Keine Frau hat applaudiert
Mit dieser Szene lässt der italienische Schriftsteller Antonio Scurati seinen Roman «M. Die letzten Tage von Europa» ausklingen. Und mit ein paar Zitaten, zum Beispiel einem Geheimbericht der Geheimpolizei, dessen Urheber aufgefallen war, dass sich der Platz nach der Rede rasch geleert habe. Und dass keine Frau applaudiert hat. «Ganz gleich, was geschieht, seit heute ist der Faschismus am Ende», schreibt ein Zeitgenosse in sein Tagebuch. «M. Die letzten Tage von Europa» ist, nach «M. Der Sohn des Jahrhunderts» und «M. Der Mann der Vorsehung», die dritte Annäherung an eine dunkle Zeit und an ihre beherrschende Figur. Im Oktober wird der letzte Band dieser literarisch-dokumentarischen Form der Auseinandersetzung erscheinen: «M. Das Buch des Krieges».
Es ist diese Zeit, auf die Scurati am 25. April hatte zu sprechen kommen wollen, in einer Rede, die Italiens öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt RAI bei ihm zum Jahrestag der Befreiung vom Faschismus bestellt hatte. Die dann aber kurzfristig und wohl auf Druck der Regierung Meloni aus dem Programm gekippt wurde. Was die Moderatorin Serena Bortone allerdings nicht daran hinderte, Scuratis Text selber vorzutragen. Scurati mittlerweile landesweit bekannte Rede handelte von der Ermordung des Sozialistenführers Giacomo Matteotti am 10. Juni 1924, ein Werk von Auftragskillern, «angeworben aus dem engsten Kreis um Benito Mussolini». Sie handelte von den Massakern, welche die deutsche SS unter Mittäterschaft der italienischen Faschisten zwanzig Jahre später an Tausenden von italienische Mitbürgern beging. Und sie stellte die Frage: «Wie geht Ministerpräsidentin Meloni mit der Vergangenheit um?». Und kam zum Schluss: «Die Postfaschisten, die die Wahlen im Oktober 2022 gewonnen haben, hatten zwei Möglichkeiten: ihrer faschistischen Vergangenheit abzuschwören oder die Geschichte umzuschreiben. Sie haben zweifellos den zweiten Weg gewählt.»
Die verpasste Aufarbeitung
Scuratis Romanwerk ist durchaus als Versuch zu werten, sich dieser Umschreibung der Geschichte entgegenzustellen (Antonio Scuratis, Bild: © Mondadori Portfolio). Wie schon Hans Woller in seiner 2016 im Verlag C.H.Beck erschienenen Biografie «Mussolini – Der erste Faschist» feststellt, haben nicht nur die italienischen Historiker jahrzehntelang einen weiten Bogen um eine Aufarbeitung des Faschismus gemacht und so das Feld einer Flut beschönigender Autobiografien Mitbeteiligter überlassen, ergänzt um Interviews von Mussolinis Witwe Rachele. Intellektuelle «warteten mit halben und ganzen Freisprüchen» auf, schreibt Woller, und erwähnt den einflussreichen Journalisten Indro Montanelli, der erklärte, die Italiener hätten «keinen Grund, sich ihrer Vergangenheit zu schämen. Der Faschismus sei ein wirksames Instrument zur Abwehr des Bolschewismus gewesen und habe nie eine totalitäre Schreckensherrschaft errichtet». So erstaunt es denn auch nicht, dass ein führender Politiker wie Silvio Berlusconi 2003 ungestraft sagen konnte, das faschistische Regime sei durchaus «gutartig» gewesen.
Antonio Scurati hat für sein Romanprojekt, für dessen ersten Teil er mit dem Premio Strega den bedeutendsten Literaturpreis des Landes erhalten hat, ein ebenso überraschendes wie naheliegendes Konzept gewählt: Er erfindet zwar vieles, wie das jeder gute Schriftsteller tut, hält sich aber genau an die historischen Fakten. Oder, in seinen eigenen Worten: «Nicht der Roman folgt der Historie, sondern die Historie wird zum Roman.» Und zum Beweis fügt er jedem Kapitel die Originalzitate der darin handelnden Personen bei.
Mussolinis Traum von der «Reinheit des Blutes»
In «M. Die letzten Tage von Europa» zieht sich die Falle langsam zu, die der umsichtige Hitler seinem italienischen Bundesgenossen gestellt hat und in die er mitsamt seinem in seiner Mehrheit ziemlich unkriegerischen Volk sehenden Auges tappt. Mussolini strebt nach Grösse, er träumt von einem Weltreich im Süden, und so will er den Anschluss an die scheinbar unbesiegbaren Deutschen nicht verpassen. Hitler ist Rivale und Verbündeter zugleich, Mussolini sieht sich als Lehrmeister, wird aber mehr und mehr Lehrling. Was er durchaus spürt, dann aber wegschiebt in wieder aufflammendem Grössenwahn. «Weisst du, diese Deutschen sind furchtbar sympathisch, und Hitler ist wie ein grosses Kind, wenn er mit mir zusammen ist», sagt er zu Clara Petacci, deren Tagebuch einen unnachahmlichen Blick in des Diktators von Illusionen und heftigen Stimmungsschwankungen bewegte Seele ermöglicht.
Andererseits: Mussolini kennt sein Volk, das sich in seinem Gros von ihm auch in beinahe zwei Jahrzehnten intensiver Propaganda nicht hat in eine Horde rücksichtsloser Eroberer umerziehen lassen. «Exzellenz, rettet Italien! Lasst ab von diesem Verbrecher. Der italienische Soldat kämpft nicht für Banditen. Der Krieg wird auch Euch zugrunde richten», schreibt ihm im September 1938 eine Mutter, die ihr Kind im Ersten Weltkrieg verlor.
Sie müht sich vergeblich. In einem Kaleidoskop an Szenen zieht ein an zögerlichen Zwischenhalten reiches Vorspiel zum Krieg an uns vorüber, angefangen bei Hitlers Besuch in Rom im Mai 1938. Jedes Kapitel stellt einen Beteiligten ins Zentrum. Mal ist es der Kunstsachverständige, der Hitler und Mussolini begleiten soll, mal ist es ein von seiner Politik Betroffener wie Renzo Ravenna, Bürgermeister von Ravenna, selber Faschist – und Jude. Der jetzt Mussolinis Judenverfolgung zum Opfer fällt. Denn auch der italienische Diktator ist besessen von der Idee der «Reinheit des Blutes».
Der Aussenminister und die Schweiz
Ganz unumstritten ist der Antisemitismus des Regimes nicht, doch die Opposition hält sich in Grenzen. Und auch der König, dessen Unterschrift immer wieder mal benötigt wird, widerspricht selten und widersetzt sich nie. Stärker sind die treibenden Kräfte, etwa in Gestalt von Galeazzo Ciano, Mussolinis eitlem Schwiegersohn und Aussenminister, der von der Eroberung Albaniens träumt, aber auch eine entschiedene Meinung zum Nachbarland Schweiz hat, und am 14. Februar 1938 in sein Tagebuch schreibt: «Habe angeregt, den Plan einer Invasion der Schweiz zum Zweck des Angriffs auf Frankreich zu studieren.»
Da ist man dann froh, dass es beim blossen Studium geblieben ist.
Antonio Scurati: M. Die letzten Tage von Europa. Stuttgart: Verlag Klett-Cotta, 2023, 430 Seiten.