Die irakischen Truppen melden, ihre Kräfte seien bis ins Zentrum der Stadt Tal Afar vorgedrungen. Es handelt sich um die letzte grössere Ortschaft im Norden des Iraks, die sich nach der Einnahme Mosuls noch in Händen des IS befunden hat. Die Stadt hatte einst gegen 200’000 Bewohner. Sie liegt etwa 70 Kilometer westlich von Mosul und 160 von der syrischen Grenze entfernt. Tal Afar bildete einen Knotenpunkt auf der internationalen Strasse, die Mosul mit Aleppo und über eine südliche Abzweigung mit Raqqa verband.
Tal Afar war von einer Mehrheit turkophoner Schiiten und Sunniten bewohnt, die man gewöhnlich Turkmenen nennt. Eine starke Minderheit bildeten die sunnitischen Araber, die aus den umliegenden Dörfern zugezogen waren. Wie weit nach drei Jahren der Beherrschung der Stadt durch den IS überhaupt schiitische Turkmenen in Tal Afar verblieben sind, ist unklar. Man hat anzunehmen, dass die meisten von ihnen, die es irgend vermochten, aus der Stadt flohen. Unter dem IS ist die Bevölkerung von rund 200’000 auf zwischen 50’000 und 100’000 gesunken.
Lange Jahre der religiösen Hetze
Schon vor der Eroberung durch den IS gab es bittere Gegensätze zwischen den türkischstämmigen Schiiten der Stadt und ihrer sunnitisch-arabischen Umwelt. Zur Zeit der amerikanischen Besetzung war der Widerstand gegen die Amerikaner sunnitisch geprägt. Der Widerstandskämpfer und Terrorist Zarqawi verfolgte eine konsequente Politik der Aufhetzung der Schiiten gegen die Sunniten und umgekehrt, indem er Bombenanschläge gegen schiitische Moscheen, Wohnquartiere, Basare usw. so lange durchführen liess, bis die Schiiten zurückschlugen und ihrerseits vom Jahr 2005 an ihre Nachbarn, die Sunniten, angriffen.
Diese Politik der Aufhetzung hatte in Bagdad eine verheerende Wirkung. Doch auch an anderen Orten mit religiös gemischter Population, wie eben in Tal Afar, führten die Anschläge zu einem blutigen und bitteren Bürger- und Strassenkrieg. Zuerst gewannen die Schiiten mit staatlicher und amerikanischer Unterstützung die Oberhand. Viele Sunniten waren gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen und in Gebiete mit sunnitischer Mehrheit zu fliehen. Nicht wenige wanderten sogar aus nach Syrien oder Jordanien.
Ende 2010, nach dem Abzug der Amerikaner, verfolgte die schiitische Regierung unter Nuri al-Maliki eine Politik der Bevorzugung der Schiiten zu Ungunsten der Sunniten, indem er schiitischen Irakern ein inoffizielles Monopol auf Beschäftigung bei den irakischen Sicherheitskräften gewährte. Polizei, Geheimpolizei und führende Stellen in der Armee sind von Schiiten besetzt.
Residenz und Rekrutierungspool des IS
Doch im Nordirak kam der Umschwung mit der Machtergreifung des IS – dieser nannte sich damals noch AQI (Al-Kaida im Irak), später ISIS (Islamischer Staat in Irak und in Syrien). Nun wurden die Schiiten verfolgt, soweit es solche im Nordirak gab, eben in erster Linie in Tal Afar. Wer immer unter den Schiiten es sich leisten konnte, floh aus der Stadt. Die verlassenen Häuser wurden vom IS beschlagnahmt. Deshalb weiss man heute nicht, ob und wie viele Schiiten noch in Tal Afar zu finden sind.
In den in Beschlag genommenen Häusern brachte der IS seine leitenden Bürokraten unter. Tel Afar wurde zu einem Zentrum der Internet-Propaganda des IS. Auch militärische Anführer brachten dort ihre Familien in Sicherheit. Die Stadt war bequem zwischen den beiden wichtigsten Städten des IS gelegen, Mosul im Irak und Raqqa in Syrien. Geraume Zeit war Tal Afar weniger den Bombenangriffen der amerikanischen Koalition und der irakischen Luftwaffe ausgesetzt als Mosul.
Das von blutigen Zwischenfällen begleitete Hin und Her zwischen sunnitischer und schiitischer Macht sowie schliesslich die radikal-sunnitische Herrschaft des IS verschärften die Gegensätze und den Hass zwischen den Konfessionen. Dies dürfte der Grund sein, weshalb besonders viele der IS-Kader mittleren Ranges unter den Sunniten von Tal Afar rekrutiert wurden.
Volksmilizen auf Nebenschauplätzen der Kämpfe
Als vor einem halben Jahr die Belagerung von Mosul durch die Regierungstruppen begann, erhielten die Kämpfer der „Volksmilizen“, die überwiegend aus schiitischen früheren Milizen bestehen, von der Armeeführung den Sonderauftrag, westlich an Mosul vorbeizuziehen, um bei der Einkesselung der Stadt mitzuhelfen und anschliessend Tal Afar zu umzingeln. Damit sollte vermieden werden, dass diese Schiitenmilizen unter den Sunniten von Mosul nach der Befreiung der Stadt oder von Teilen derselben Massaker anrichteten oder Plünderungen begingen.
Die Volksmilizen nahmen den Militärflughafen von Tal Afar ein. Sie umstellten die Stadt grossräumig, indem sie deren Verbindung nach Syrien abschnitten und im Norden Tal Afars Kontakt mit den dortigen Peschmerga-Einheiten der irakischen Kurden aufnahmen. Doch sie drangen nicht in die Stadt ein, sei es, weil sie dies für ihre nicht für den Stadtkampf trainierten Kräfte als zu gefährlich erachteten, sei es, weil Bagdad sie zur Zurückhaltung zwang.
Führungsrolle der irakischen Armee
Vor einer Woche begann die Offensive gegen Tal Afar, nachdem irakische Elite-Einheiten, die in Mosul gekämpft hatten, dorthin verlegt worden waren. Die schiitischen Volksmilizen nehmen an dem Angriff teil, doch es ist ein irakischer Armeeoffizier, der die Offensive kommandiert. Inzwischen hat die irakische Armee mit amerikanischer Unterstützung das Zentrum der Stadt mit der aus osmanischer Zeit stammenden Zitadelle erreicht. Der IS verteidigt sich – wie schon in Mosul – mit Autobomben und Heckenschützen auf den Dächern sowie mit Hilfe unterirdischer Gänge, aus denen seine Kämpfer den Angreifern in den Rücken fallen können.
Die amerikanischen Luftangriffe sind stärker denn je. In dem bis jetzt eine Woche dauernden Angriff und in der Periode zu dessen Vorbereitung sollen die Amerikaner und die Flugzeuge ihrer Koalition nicht weniger als 930 Einsätze über der Stadt geflogen haben, Drohnen nicht mitgerechnet. Es ist unvermeidlich, dass bei einer derartigen Dichte der Schläge aus der Luft nicht nur die IS-Kämpfer, sondern auch die in der Stadt verbliebenen Zivilisten schwer zu leiden haben. Wie in Mosul sucht der IS die Flucht der verbliebenen Zivilisten zu verhindern, indem auf Fliehende geschossen wird. Dahinter steht vor allem die Absicht, die Zivilen als Schutzschilde zu missbrauchen. Das Wissen um ihre Gegenwart soll die Angreifer daran hindern, aus der Luft und mit Artillerie zuzuschlagen.
Der Umstand, dass Präsident Trump die Verantwortung für das taktische Vorgehen der Amerikaner völlig in die Hände der zuständigen Militärs gelegt hat, dürfte dazu beitragen, dass Bombardierungen und Beschiessungen ungehemmter eingesetzt werden, als dies zur Zeit von Obama in den Kämpfen um die damals dem IS entrissenen irakischen Städte geschah. Viele Offiziere dürften bereit sein, Luftschläge anzufordern und anzuordnen, wenn sie vor die Wahl gestellt werden, entweder eigene Soldaten zu verlieren oder irakische Zivilisten zu schonen. Sie werden schon deshalb im Zweifel eher zuschlagen, da sie von den gefährdeten Bewohnern nicht wissen, ob diese in den vergangenen Jahren mit dem IS zusammengearbeitet haben oder nicht.
Dramatischer Bevölkerungsrückgang unter dem IS
Die Schätzungen darüber, wie viele Zivilisten sich noch in der umkämpften Stadt befinden, gehen weit auseinander. Sie bewegen sich zwischen 20’000 und 50’000. Die Zahl der IS-Kämpfer, die sich noch in Tal Afar halten, wird auf 2’000 oder 1’500 geschätzt. Doch viele von ihnen haben auch ihre Familien in der Stadt untergebracht. Gegen 49’000 Personen sollen in den letzten Wochen aus der Stadt geflohen sein. Es gibt offenbar auch noch jesidische Gefangene des IS in der Stadt, Frauen und Kinder, die als Sklaven gehalten werden.
Es dürften nicht mehr viele Mitglieder der obersten Führung des IS sein, die sich in Tal Afar befinden. Sie zogen sich aus Mosul, bevor die dortige Belagerung begann, eher nach Süden in die Weiten der syrischen Wüste zurück, deren irakischer Teil die Anbar-Provinz des Iraks bildet und wo der Übergang nach der syrischen Jezira, der „Insel“, die zwischen Euphrat und Tigris liegt, weit offen steht. Jenseits der Jezira, am Euphrat und in Syrien, liegen Stadt und Provinz Deir az-Zor, die als letzte Zuflucht der IS-Führung ausserhalb der unbewohnten Wüsten, aber mit leichtem Zugang zu ihnen, zu gelten hat.
Türkei und Iran wollen mitreden
Wegen seiner turkophonen, aber teilweise schiitischen bisherigen Bevölkerungsmehrheit ist Tal Afar sowohl für die Türkei wie auch für Iran wichtig. Noch vor wenigen Monaten äusserten die Türken Befürchtungen, dass ihre „Landsleute“ in Tel Afar misshandelt werden könnten. Diese Sorge diente ihnen als Vorwand dafür, dass sie – wider den Willen Bagdads – in der von den irakischen Kurden beherrschten Region nördlich von Mosul Truppen stehen haben.
Doch in jüngster Zeit kam eine Annäherung zwischen Ankara und Iran in Gang. Der Chef des iranischen Generalstabs besuchte Ankara. Die dort geführten Gespräche standen im Zeichen der Kurdenpolitik. Ankara und Teheran haben beide ein Interesse daran, „ihre“ Kurden niederzuhalten, weil diese sich geneigt zeigen, gegen die jeweilige Zentrale aufzubegehren.
Die irakischen Kurden, die offiziell Autonomie geniessen, haben ihre Absicht erklärt, am 25. September in ihren Landesteilen ein Unabhängigkeitsreferendum durchzuführen. Bisher haben die Warnungen aus Bagdad und die Ratschläge aus Washington, vorläufig auf diesen Schritt zu verzichten, nichts gefruchtet. Das Plebiszit bleibt geplant. Dies missfällt Ankara und Teheran, weil beide befürchten müssen, plebiszitär geforderte „Unabhängigkeit“ in irakisch Kurdistan könnte sich auf die angrenzenden kurdischen Gebiete in der Türkei und in Iran auswirken.
Die früheren Spannungen zwischen den beiden Kapitalen hatten im Zeichen der gegensätzlichen Syrienpolitik gestanden: die Türkei gegen, Iran für das Regime Asad. Doch da nun Ankara ohnehin im Begriff ist, seine Syrienpolitik zu revidieren, ist der alte Gegensatz kein unüberwindliches Hindernis mehr.
Erneute Rache oder Wiederaufbau
Es wird interessant sein zu beobachten, für welche Politik der Irak sich gegenüber den turkmenischen Schiiten von Tal Afar entscheiden wird und wer mit deren Ausführung betraut wird: Sind es die pro-schiitischen und pro-iranischen Volksmilizen? Von ihnen wäre zu erwarten, dass sie die Schiiten begünstigen. Sie würden deren Heimkehr nach Tal Afar beschleunigen und so zur Rache am IS und an allen Sunniten anstacheln. – Oder wird die irakische Politik in den Händen der Armee und der mit ihr kämpfenden Anti-Terrorismus-Einheiten der offiziellen Polizei liegen? Von ihnen könnte man ein zumindest etwas weniger blindes und summarisches Vorgehen gegen den verbliebenen sunnitischen Bevölkerungsteil der Stadt erwarten.
Die Kämpfe um die noch vom IS gehaltene Hälfte der Stadt werden wohl noch eine Woche oder zwei dauern. Doch dann kommt der Zeitpunkt, zu dem Bagdad entscheiden muss, wer die Verantwortung für die Stadt mit ihrem früheren schiitischen Bevölkerungsanteil und ihrer turkophonen Mehrheit übernehmen soll. Die Rückkehr der Bevölkerung zu organisieren und den Wiederaufbau zu leiten: dies sind die dringenden grossen Aufgaben.