Und schon herrscht wieder Alltag an der Claridenstrasse 7 in Zürich. Dies ist die Adresse der Tonhalle, die nun wieder festlich eröffnet und dem Konzertbetrieb übergeben wurde. Endlich … gerade auch nach einem Jahr der Pandemie, als ohnehin kaum Konzerte gespielt werden konnten. Endlich kommt auch hier wieder Leben ins Leben.
Abschied vom wilden Westen
Ilona Schmiel, die Intendantin, ist überglücklich. Music Director Paavo Järvi sowieso, und Verwaltungsrats-Präsident Martin Vollenwyder strahlt übers ganze Gesicht. Aber auch Karlheinz Müller hat Grund zur Freude. Er hat schliesslich an der Akustik getüftelt und dafür gesorgt, dass der nun wieder prächtige Konzertsaal genauso grossartig klingt, wie er aussieht. Ilona Schmiel hat während der ganzen Umbauzeit die Belange des Tonhalle-Orchesters im Exil mit Bravour gemanagt und auch dank ihr wurde die «Tonhalle Maag», draussen in Zürichs wildem Westen, eine Erfolgsgeschichte, da sie unter anderem, neben dem Stammpublikum, auch ein neueres Publikum anlockte. Das ging so weit, dass der Abschied vom Provisorium «Tonhalle Maag» ein tränenreicher wurde, zumal der Abriss der geliebten «Holzschachtel» an der Zahnradstrasse neben dem Prime Tower definitiv beschlossen war und es kein Zurück gab.
Aber das ist alles Vergangenheit. Keine Tränen mehr für die Tonhalle Maag – nur noch schöne Erinnerungen – und Aufbruch in die prächtige Tonhalle am See, die einem doch gleich wieder so vertraut vorkommt. Man muss sich nicht umgewöhnen, alles sieht – fast – gleich aus, und ist doch viel schöner, als man es in Erinnerung hatte: weiter, luftiger, frischer, entstaubter. Aber die Denkmalpflege hatte ein wachsames Auge darauf, dass das Alte nicht plötzlich neu aussieht. Nur schöner … Und dass der berühmte perfekte Klang der Tonhalle bei allen Renovationsarbeiten nicht verloren ging, dafür sorgte Karlheinz Müller aus München, der schon so manchem Opern- oder Konzerthaus den guten Ton verpasst hat. Auch er hat den Saal nun zum ersten Mal mit voller Besetzung auf der Bühne und ebenso voller Besetzung im Zuschauerraum erlebt. Während der Renovationszeit mussten mitunter Schaufensterpuppen im Zuschauerraum herhalten, um das Publikum zu simulieren.
Publikum als Luftbefeuchter
Und nun trumpft die Tonhalle mit einem Klang auf, der sogar noch besser ist als vorher, transparenter und mit mehr Kontakt zwischen Orchester und Publikum. Das hat unter anderem mit dem Wandanstrich, dem Überzugsstoff der Sitze und dem neuen Parkettboden zu tun, der «schwimmend» ist, also nicht mit dem Boden fest verbunden. Damit macht er alle Schallwellen physisch spürbar, erklärt Karlheinz Müller. Eine wesentliche Neuerung ist auch der Einbau einer Befeuchtung in die Lüftungsanlage. Vor allem im Winter war die Luft im Saal zu trocken, was sich kritisch auf den Klang auswirken konnte. In früheren Zeiten hätte man das in Konzerten noch ganz anders gelöst, erzählt Müller mit einem Schmunzeln. «Das erste Stück im Programm war relativ oft kurz und wenn der Saal voll besetzt war, sorgten die Zuschauer nur schon durch ihre Präsenz für eine gewisse Luftfeuchtigkeit. Beim zweiten, zumeist wichtigeren und längeren Stück stimmten dann Luft und Klang – dank der Menschen als Luftbefeuchter.» Heute stimmen Luftfeuchtigkeit und Klang von Anfang an …
Den Beweis dafür lieferte gleich das Eröffnungskonzert mit Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 3 in D-moll. Paavö Järvi konnte aus dem Vollen schöpfen. Dies kam ihm insbesondere darum entgegen, weil die Dritte auch gleich noch Järvis liebste Mahler-Sinfonie ist, wie er im Gespräch verriet. 162 Mitwirkende, inklusive Damenchor und Sängerknaben, lieferten einerseits die leisesten Töne, die überhaupt noch hörbar sind, andererseits eine volle Lautstärke mit sämtlichen Instrumenten und Stimmen …, ohne dass der Ton das Publikum erschlagen hätte. Genau diese Mahler-Sinfonie wurde schon zwei Jahre nach ihrer Uraufführung im deutschen Krefeld auch in Zürich, in der alten Tonhalle gespielt. Das war 1904. Ein «Fräulein Minna Weidele aus Zürich» wird auf dem Programmzettel als Solistin aufgeführt und der junge Volkmar Andreae als Dirigent. Bei Publikum und Presse kam die Sinfonie damals allerdings nicht allzu gut an. Paavö Järvi und das heutige Tonhalle-Orchester ernteten dagegen Jubel und tosenden Applaus für das Eröffnungskonzert der neuen Ära in der Tonhalle.
Der Saal als grosses Instrument
Am Morgen danach probt das Tonhalle-Orchester bereits wieder ein anderes Stück, diesmal von George Enescu. Nur zwei Tage nach der Eröffnungsfeier ist dieses Stück Teil eines Gastspiels des Tonhalle-Orchesters im Rahmen des Enescu-Festivals in Bukarest, wo auch Mahlers 3. Sinfonie noch einmal aufgeführt wird. Das ursprünglich geplante Japan-Gastspiel dagegen ist Corona zum Opfer gefallen.
Und wie fühlt sich die Tonhalle nun für Paavo Järvi an? Seit seinem Amtsantritt als Music Director des Tonhalle-Orchesters gab er ja nur Konzerte in der Maag-Halle. «Wir sind immer noch im Maag-Modus», sagt er lachend. «Wir müssen nun erst mal lernen, dieses neue ‘Instrument’ zu spielen. Denn die Tonhalle ist gewissermassen ein grosses Instrument. Bis wir das wirklich im Griff haben, dauert es mindestens ein Jahr.» Paavo Järvi ist aber voller Drang, dem Publikum zu zeigen, wie grossartig nicht nur der Saal, sondern auch das Tonhalle-Orchester ist. Geplant sind dafür ab und zu auch konzertante Opern. Und Werke von zeitgenössischen Komponisten, nicht nur aus Järvis Heimat, dem baltischen Raum, obwohl diese ihm natürlich besonders nahestehen. «Ich würde gern mehr Zeit in die verschiedensten Komponisten investieren.» Paavo Järvi hat viel vor. «Aber es würde mehr als ein ganzes Leben dauern, um alles zu verwirklichen ...»
Für das Publikum hat sich neben der Renovation der Tonhalle auch einiges verändert: Die Konzerte werden möglichst ohne Pause gespielt, dafür gibt es anschliessend die Möglichkeit für ein geselliges Beisammensein mit Orchestermitgliedern an der Bar und vor allem auch auf der wunderbaren neuen Terrasse, die einen spektakulären Blick über den See bietet und wirklich animiert, nicht sofort nach Hause zu gehen. Das ist eine Erfahrung aus der Tonhalle Maag, die nun beim Umzug mitgenommen wurde: das Foyer mit seinem Fabrikhallen-Chic hatte sich zum perfekten Treffpunkt für alle Beteiligten gemausert. So soll es auch in der neu-alten Tonhalle weitergehen. Bei der Eröffnungsfeier hat es funktioniert.