China strebe sowohl geopolitisch als auch finanz- und wirtschaftspolitisch nach Expansion und Vorherrschaft. Angeführt vom Wall Street Journal, dem Sprachrohr des Kapitals, urteilen mehr oder weniger unisono die westlichen Leitmedien in Amerika und Europa, die Schweiz natürlich eingeschlossen. Das Werturteil kam aufgrund einer dürftigen Argumentation und einer verqueren Analyse der Fakten zustande. Was sich allerdings nachweislich verändert hat, ist die internationale Wetterlage in finanz-, wirtschafts- und machtpolitischer Hinsicht.
Neue Welt
Seit Jahrzehnten verschiebt sich das Zentrum der Welt langsam von der atlantischen in die pazifische Region. Doch die noch immer im eurozentrischen Denken verhafteten westlichen Kommentatoren, Ökonomen, Banker, Analysten und andere assortierte Pundits konnten oder wollten partout nicht begreifen, dass nach 500-jähriger Suprematie der europäischen, westlichen Kultur eine neue Welt im Entstehen begriffen ist. Nicht mehr hegemonial geführt von den USA, sondern multipolar. Asien hat in den letzten Jahrzehnten schnell aufgeholt. Zunächst war es Japan, dann die vier Tiger- oder Drachenstaaten Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur, dann Thailand und Malaysia, schliesslich die Schwergewichte China, Indien und Indonesien.
Nun ist das wirtschaftlich erstarkte China daran, mit der Gründung der „Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank“ AIIB finanz- und entwicklungspolitisch ein klares Zeichen der sich abzeichnenden neuen Weltwirtschaftsordnung zu setzen. Dies 70 Jahre nach Gründung der Bretton-Woods-Institutionen, dem Internationalen Währungsfonds IMF, der Weltbank WB und dem Ableger Asiatische Entwicklungsbank ADB am Ende des II. Weltkrieges. Washington reagierte umgehend mit Ablehnung. Krampfhaft bemühte sich das Weisse Haus, seinen engsten europäischen Verbündeten, Grossbritannien, davon abzuhalten, AIIB-Gründungsmitglied zu werden. Vergeblich. Diplomatischer Druck aus Amerika verpuffte auch bei andern westlichen Staaten. Mittlerweile zählen Neuseeland, Australien, Südkorea, Brasilien, Indien, Russland, Südafrika aber zumal auch die US-Verbündeten Deutschland, Frankreich, Italien, ja selbst die Schweiz, Luxemburg und Österreich zu den Gründungsmitgliedern.
Amerikaner plötzlich flexibel
Bis zum Stichtag, dem 31. März, haben sich insgesamt 44 Staaten als Gründungsmitglieder beworben. Darunter befindet sich auch die aus Pekinger Sicht „abtrünnige“ Provinz Taiwan. China hat auf Taiwans Bewerbung mit Wohlwollen reagiert. Im allerletzten Moment sind auch die Amerikaner plötzlich flexibel geworden, offenbar unter dem Eindruck der AIIB-Teilnahme der engsten europäischen US-Verbündeten. Bei Gesprächen am 30. März in Peking mit Premier Li Kejiang hat sich der amerikanische Finanzminister Jacob Lew vorsichtig positiv geäussert. Die USA begrüssten und unterstützten, so Lew diplomatisch, alle Vorschläge, die einer verbesserten internationalen Finanzstuktur dienten. Washington sei bereit zum Gespräch.
Enorme Investitionen
Wie immer bei Finanz- und Wirtschaftsfragen geht China pragmatisch und flexibel vor. Die AIIB-Gründung ist vor dem Hintergrund der neuen chinesichen Seidenstrassen-Strategie zu werten. Staats- und Parteichef Xi Jinping hatte kurz nach seinem Amtsantritt vor zweieinhalb Jahren für China, aber auch für Südostasien, Eurasien und Europa seine neue Sicht der Dinge skizziert: Die Seidenstrassen zu Land und zu Wasser müssten neu angekurbelt werden zum Wohl aller Menschen in Asien, Europa und darüber hinaus. Die Verbesserung und Ausweitung der Infrastruktur sei der erste, notwendige Schritt zur Erreichung dieses Ziels.
Nicht von ungefähr. Es braucht den Ausbau von Flughäfen, Container-Terminals, Tiefsseehäfen, Telekommunikation, Energie und vor allem des interkontinentalen Eurasischen Schienennetzes. Der Investitions-Bedarf ist enorm. Nur ein Beispiel: Allein in Indonesien veranschlagt die Regierung die Investitionen zur Verbesserung der maroden Infrastruktur auf eine halbe Billion Dollar. Oder: Nach Schätzungen der von Japan geführten Asiatischen Entwicklungsbank ADB sind bis 2020 jährlich 750 Milliarden Dollar für Infrstruktur nötig. Die ADB ist bei solchen Summen überfordert, vergab sie doch 2012 nur Kredite im Werte von 7,5 Milliarden.
Kein Reisli
Vor diesem Hintergrund ist der Name der neuen Entwicklungsbank auch verständlich, eben „Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank“. Diese von China geführte regionale Finanz-Institution ist bei näherer Betrachtung, alles in allem, durchaus komplementär zu den existierenden, von Amerika dirigierten Bretton-Woods-Institutionen „Internationaler Währungsfonds“, „Weltbank“ oder „Asiatische Entwicklungsbank“.
Näheres zur chinesischen Initiative war soeben am jährlich stattfindenden Bao-Forum auf der südchineischen Insel Hainan zu erfahren unter dem Tagungs-Motto „Asiens neue Zukunft – hin zu einem gemeinsamen Schicksal“. Asiatische Staats- und Regierungschef gaben sich ein Stelldichein. International war das Powwoh indes nur schmal besetzt. Aus Europa war wenigstens Österreich höchstrangig zugegen. Einen Schweizer Bundesrat, ansonsten ja immer für ein Reisli zu haben, suchte man vergeblich. Immerhin erläuterte dort Staats- und Parteichef Xi Jinping einmal mehr auführlich die Seidenstrassen-Strategie. Das Bao-Forum allerdings findet im Unterschied zum World Economic Forum in den westlichen Medien kaum Erwähnung.
„Mannigfaltigkeit und Gerechtigkeit“
In den westlichen Hauptstädten und Medien wird jetzt bange die Frage gestellt, ob denn die AIIB-Gründung eine eigene, neue Version der Bretton-Woodes-Institutionen sei. China, so hiess es, suche die Hegemonie nun auch in internationalen Finanzfragen. Ist das der Anfang vom Ende der globalen Dollar-Vorherrschft, raunten fragend die übeforderten Finanz-Analysten von Frankfurt, Zürich, London oder New York - in Tokio, Hong Kong und Singapur analysierte man präziser und gelassener.
„Das alles“, befand ein Kommentator der Tageszeitung „Global Times“ – einem Ableger eines anderen Sprachrohrs, nämlich des Partei-Lautsprechers „Renimin Ribao“ (Volkszeitung) – „hat nichts mit der Wahrheit zu tun“. Historisch sei die Lage heute anders als bei der Gründung der Bretton-Woods-Institutionen 1944. Die AIIB werde die internationale Finanzordnung nicht auf den Kopf stellen. „Der Geist der AIIB“, so der „Global Times“-Kommentator, „ist vielmehr Mannigfaltigkeit und Gerechtigkeit“.
Die alten Tage
Auch was den Dollar als die derzeitige globale Leitwährung betrifft, gibt sich China gelassen. „Das Bretton-Woods-System ist ein Produkt alter Tage“, urteilt die „Global Times“. Die neuen globalen Trends hätten die AIIB geschaffen, und „es gibt keinen Grund, heute auf die alten Tage einer einzigen Währung zurückzublicken“.
Der Internationale Währungsfond IMF und mithin die USA haben unter dem Radar einer breiten Öffentlichkeit denn auch bereits reagiert. Wie IMF-Chefin Lagarde kürzlich in einer Rede an der Fudan-Universität in Shanghai sagte, wird derzeit über eine Beteiligung Chinas an der künstlichen Währung, den IMF-Sonderziehungsrechten, verhandelt. Neben dem Dollar, dem Euro, dem britischen Pfund und dem japanischen Yen soll künftig auch der chinesische Yuan Teil des Währungskorbes werden. Das ist natürlich noch nicht das Ende der Dollar-Weltherrschaft, aber der Anfang vom Ende, beziehungsweise der Übergang zu einer mulitpolaren globalen Struktur.