„Wir haben keine einzige Karte bekommen, dabei sass ich ab dem ersten Moment der Freigabe der Vorführung vor dem Computer“, erzählte mir eine spektakulär aussehende New Yorkerin, zurechtgemacht wie Cleopatra, bei der Gala zum 100. Geburtstag von Diaghilevs „Ballets Russes“ in der Opéra Garnier in Paris. „Und wie sind Sie dann doch noch an Karten gekommen?“ - “Ich habe mich bei meinem Travel-Agent beschwert, der hatte einen Kontakt in Paris, der ihm eine Anlaufstelle vermittelte, die dann doch noch zwei Tickets fand. Zu einem horrenden Preis, natürlich.“
Mir waren die langen Schlangen im Foyer der Oper vor dem Schalter „Invitations“ schon aufgefallen. Wahrscheinlich waren gar keine Karten in den freien Verkauf gekommen. Wenn Sie in Paris prominent sind als Künstler oder Politiker, sonstwie bedeutend, besondere Beziehungen haben oder zu einer der „Grands Familles de France“ gehören, dann bekommen sie „Invitations“.
Catherine, eine 65-jährige Pariser Freundin, hat jede neue Opern- und Theaterproduktion gesehen, war bei jedem wichtigen Konzert, kennt jedes neue Ballet und, ganz wichtig für sie als eingefleischten Federer-Fan, ist jeweils jeden Tag in einer Loge beim Tennisturnier in Roland Garros eingeladen. Sie wird ihrer Herkunft wegen mit „Invitations“ überschüttet. Doch was macht man, wenn man mal keine hat?
Die letzte Produktion der Ära Gérard Mortier, die Oper „Le Roi Roger“ des polnischen Komponisten Karol Szymanowski., inszeniert vom ebenfalls polnischen Regiegenie Krystof Warlikowski, war grossartig. Catherine hatte sie einer Grippe wegen nicht gesehen. Ich drängte sie, sich die Oper doch noch anzuschauen. „Ich habe dir doch gesagt, ich konnte nicht am Tag der ’Invitations’. „Dann musst Du Dir halt ein Ticket kaufen!“’ „Das musste ich noch nie. Wie macht man das?“
Ich erklärte es ihr. Zwei Wochen später bekam ich ein Telefon. Die Oper hatte Catherine sehr gut gefallen. „Und, ging das gut mit der Opernkasse?“ – „Opernkasse? Nein, eine Freundin vom ‚Figaro’ hat mir eine ‚‚Invitation’ besorgt.“
Und die Kehrseite? Einem geschenkten Gaul... Als vor zwei Jahren bei einer Premiere des „Tristan“ Regisseur Warlikowski zwei Minuten eines Films von Roberto Rossellini auf der Opernbühne zeigte - ein Junge geht durch das zerbombte Berlin und stürzt sich dann durch ein Fensterloch zu Tode: eine stimmige Metapher dessen, was in der Oper passierte - pfiff das Pariser Publikum so laut, dass es die Musik übertönte und der Dirigent das Orchester abwinken musste.
Direktor Mortier schoss wie eine Kanonenkugel auf die Bühne und erging sich in Publikumsbeschimpfung: Respekt vor Kunst, der Freiheit der Künstler, Achtung gegenüber den Interpreten etc. „Und überhaupt“, so schloss er, „sind Sie ja alle gratis da, weil eingeladen, und haben sich zumindest entsprechend zu benehmen.“ Die Bemerkung resultierte in einem Tumult der Empörung. Erst nachdem die gröbsten Aufrührer von Ordnungskräften aus dem Saal geleitet worden waren, konnte die Aufführung weiter gehen. Noch tagelang erschienen in den Pariser Gazetten schneidende Artikel, wurde in den lokalen Salons empört getuschelt. Gegen den Operndirektor. Gérard Mortier ist inzwischen Direktor der Oper von Madrid.