Nach dem Anschlag auf den Ministerpräsidenten droht ein offener Konflikt zwischen der Regierung und paramilitärischen Verbänden. Hintergrund ist die anstehende Regierungsbildung.
Am vergangenen Sonntag wurde der Sitz des irakischen Ministerpräsidenten Mustafa al-Kadhimi mittels dreier mit Sprengstoff beladener Drohnen angegriffen. Die «Grüne Zone» im Herzen Bagdads, in der sich Regierungsgebäude und internationale Vertretungen befinden, verfügt über eine Luftabwehr, die zwei Drohnen abfangen konnte, während die dritte ihr Ziel erreichte. Al-Kadhimi überstand den Angriff unbeschadet; laut Medienberichten wurden mindestens sechs Angehörige der Sicherheitsdienste verletzt.
Bisher hat sich niemand zum Anschlag bekannt. In die Spekulationen über die mögliche Täterschaft mischen sich Gerüchte darüber, dass eine Gruppe von Kämpfern versucht habe, nach Iran zu fliehen, an der iranischen Grenze aber keinen Einlass erhalten hätte. Ein weiteres Gerücht besagt, die Luftsicherung über der Grünen Zone sei teilweise ausgeschaltet gewesen, weshalb der Startpunkt der Drohnen nicht exakt bestimmt werden könne.
Die irakische Wahrnehmung von Gewalt unterscheidet sich nach Jahrzehnten der Kriege und Konflikte offensichtlich von derjenigen der meisten anderen Länder. Während andernorts ein Mordanschlag auf den Ministerpräsidenten als offene Kriegserklärung wahrgenommen würde, fragt man sich im Irak nun, was mit diesem Angriff wohl kommuniziert werden sollte.
Milizen als wahrscheinliche Täter
Vertreter der irakischen Streitkräfte haben den Kampfbund «Islamischer Staat» als Angreifer ausgeschlossen. Auch die zurückhaltende Kommunikation der Regierung deutet nicht auf den IS als wahrscheinlichen Täter. Angesichts des bisherigen Vorgehens des IS würde ein Angriff auf den Ministerpräsidenten tatsächlich einen drastischen Strategiewechsel bedeuten. Der IS konzentriert seine Angriffe auf die Sicherheitskräfte, die Infrastruktur und die Zivilbevölkerung. Die zuletzt im Januar und Juli diesen Jahres erfolgten Sprengstoffanschläge auf Märkte in schiitischen Teilen Bagdads entsprechen der bekannten IS-Strategie. Die schiitische Bevölkerung soll zu Vergeltungsaktionen provoziert und auf diese Weise eine konfessionelle Gewaltspirale in Gang gesetzt werden.
Sowohl irakische Medien wie auch politische Akteure im Land vermuten dagegen, dass schiitische Milizen für den Anschlag verantwortlich sind. Auch die vorsichtige Kommunikation der Regierung, die die Angreifer zu kennen beteuert, deren Namen aber (noch) nicht nennen will, weist in diese Richtung.
Tatsächlich spricht fast alles dafür, dass bewaffnete Verbände aus dem schiitischen Umfeld den Angriff durchgeführt haben. Verschiedene Gruppierungen hatten in den letzten Monaten bereits den Einsatz von Drohnen angekündigt (allerdings meist für Angriffe gegen Stützpunkte der US-Truppen). Die Gerüchte über einen Fluchtversuch nach Iran sowie der Zugang zur Luftsicherung der Grünen Zone weisen ebenfalls auf diese paramilitärischen Gruppen. Hinzu kommen die äusserst verhalten formulierten Verurteilungen des Angriffs durch bekannte Führungspersönlichkeiten der Milizen, die zudem bereits Gerüchte verbreiteten, der Angriff sei bloss eine Inszenierung gewesen, um die Position der Regierung zu stärken.
Splittergruppen als Speerspitze
Am wahrscheinlichsten ist, dass die Angreifer aus den Reihen einer der kleineren paramilitärischen Einheiten stammen (u. a. Rabʿ Allah, Kata’ib Sayyid al-Shuhada, ’Ahd Allah und ’Ahsab al-Kahf). Sie wurden 2019 und 2020 aus Mitgliedern der etablierten Milizen gebildet und blieben eng mit diesen verbunden.
Diese kleineren Einheiten führten in den letzten Jahren zahlreiche Angriffe auf US-Einrichtungen und besonders auf deren Versorgungslieferungen aus – Angriffe, die die etablierten Milizen wie Kata’ib Hizbullah und Asa’ib Ahl al-Haqq aufgrund des Drucks durch die USA und die irakische Regierung nicht mehr selber durchführen können. Die Auslagerung an nominell unabhängige Gruppen erlaubt es den grossen Milizen, die Verantwortung für solche Angriffe offiziell von sich zu weisen. Die halbherzigen Verurteilungen des Anschlages auf Premier Kadhimi durch Abu Ali al-Askari (Kata’ib Hizbullah) und Qais al-Khaz’ali (Asa’ib Ahl al-Haqq) scheinen dieses Muster zu bestätigen.
Mehr als iranische Handlanger
Kata’ib Hizbullah (KH) und Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH) sind professionelle, hochgerüstete Einheiten. Sie gewannen unter dem Dach der sogenannten Volksmobilisierungseinheiten, den «Haschd», im Kampf gegen den IS ab 2014 an Bedeutung. Dank massiver Unterstützung durch den Iran haben sie deutlich an militärischer Schlagkraft gewonnen. Mehrfach schon haben sie durch Paraden und Protestmärsche die regulären irakischen Sicherheitskräfte herausgefordert. Obwohl sie offiziell unter dem Kommando der Regierung stehen, haben sie sich der effektiven staatlichen Kontrolle stets entzogen. Durch ihre Kontrolle über ganze Landstriche, Grenzübergänge und Überlandstrassen ist es ihnen gelungen, parallelstaatliche Strukturen aufzubauen.
Meist werden diese Milizen als verlängerter Arm Irans dargestellt. Der iranische Einfluss ist tatsächlich beträchtlich. Der aktuelle Angriff auf Kadhimi lässt sich aber nicht auf eine simple Konfrontation zwischen den beiden Ländern reduzieren. Die Milizen stehen dem Iran zwar nahe, handeln aber eigenständig und verfolgen eigene Interessen. Sollte sich die Zurückweisung von flüchtenden Milizionären an der iranischen Grenze bewahrheiten, könnte dies sogar auf iranische Kritik am Anschlag auf Kadhimi hinweisen.
Von der Wahlniederlage zur Konfrontation
Hauptgrund für die aktuelle Eskalation sind die Parlamentswahlen vom 10. Oktober. Bei diesen Wahlen hat die Fatah-Allianz, die politische Vertretung der Milizen, massiv an Einfluss verloren. Von den 48 Sitzen, die sie bei den Wahlen von 2018 noch erringen konnten, bleiben voraussichtlich nur 17 übrig. Die Milizen haben deutlich an Popularität eingebüsst, insbesondere durch ihre Gewalt gegen die Demonstrationen, die den Irak seit 2019 prägen. Sie werden zudem für gezielte Mordanschläge auf politische und zivilgesellschaftliche Aktivisten und Aktivistinnen verantwortlich gemacht. Mehrmals hat sich Premierminister Kadhimi gegen die Straffreiheit der Milizen gestellt, musste aber vor deren massiven Gewaltandrohungen jeweils wieder zurückweichen.
Die Milizen stemmen sich nun mit aller Kraft gegen die Wahlniederlage, die ihren Einfluss deutlich zu mindern droht. Bereits kurz nach Bekanntwerden der Resultate kündigten mehrere ihrer Vertreter an, gegen den (von ihnen behaupteten) Wahlbetrug notfalls mit Waffengewalt vorzugehen. Vergangenen Freitag schliesslich eskalierten Demonstrationen von Anhängern der Milizen gegen die Wahlergebnisse, mindestens ein Demonstrant wurde getötet, mutmasslich durch Sicherheitskräfte. Tags darauf machte AAH-Anführer Qais al-Khaz’ali Premier Kadhimi persönlich für die Opfer verantwortlich. Noch einen Tag später erfolgte der Drohnenangriff.
Letzte Woche wurde zudem erstmals eine Person für den Mord an zwei systemkritischen Journalisten verurteilt. Auch wenn keine der Milizen öffentlich verantwortlich gemacht wurde, stellt das Urteil angesichts der bisherigen Straffreiheit doch eine beachtliche Verschiebung der Verhältnisse dar.
Die Milizen mit dem Rücken zur Wand
Die aktuelle Eskalation deutet darauf hin, dass sich die Milizen tatsächlich zunehmend unter Druck gesetzt fühlen. Dazu trägt nicht nur das Vorgehen von Premier Kadhimi bei. Besonders bedrohlich müssen die gegenwärtigen Aktivitäten von Muqtada al-Sadr wirken, dessen Wahlbündnis im Oktober mit Abstand am meisten Stimmen erzielt hat. Sadr ist ein schiitischer Geistlicher und verfügt über eine millionenstarke Anhängerschaft. Auch wenn er selber kein politisches Amt anstrebt, sind die «Sadristen» stark in der staatlichen Verwaltung vertreten und werden im neuen Parlament wohl 73 Sitze erhalten. Nun reist er durchs Land, um Allianzen aufzubauen und so eine parlamentarische Mehrheit zu schmieden. Aufhorchen liess diesbezüglich sein Besuch letzte Woche in Kurdistan bei Masud Barzani. Die 33 Sitze von dessen KDP würden einen wichtigen Beitrag zu einer Mehrheit leisten. Barzani hat zudem noch eine eigene Rechnung mit den schiitischen Milizen offen, die nach dem Unabhängigkeitsreferendum 2017 in einige der kurdischen Gebiete einmarschierten.
Sadr hat sich direkt nach seinem Wahlerfolg explizit gegen autonom agierende bewaffnete Gruppen gestellt, indem er deren Entwaffnung forderte. Auch wenn nicht ganz klar ist, wie dieser Anspruch seine eigene Miliz, die Sarayat al-Salam, betreffen würde – in Kadhimi hat Sadr einen starken Verbündeten für sein Vorgehen gegen die Haschd gefunden. Mit seiner Positionierung gegen die Milizen ist Sadr auch die Unterstützung von Taqaddum gewiss, der bei den letzten Wahlen erfolgreichsten sunnitischen Partei. Sollte Sadr auch noch einige kleinere Parteien und Unabhängige auf seine Seite ziehen können, droht eine parlamentarische Mehrheit unter Ausschluss der Haschd-Vertretung und ihrer politischen Verbündeten.
Kampf um den Staat
Der Angriff auf Kadhimi richtet sich nicht nur gegen eine Person. Er zielt auch auf das Verständnis davon, wer die irakische Nation repräsentiert. Sadr hat das erkannt, als er den Anschlag auf Kadhimi als «Anschlag auf den Irak und seine Souveränität» bezeichnete. Die Milizen sehen sich selber als den eigentlichen Souverän – als diejenigen, denen die Freiwilligen in Massen zugeströmt sind, die in den Kampf gegen den IS gezogen sind und den Irak und dessen schiitische Bevölkerungsmehrheit vor den Terroristen gerettet haben.
Kadhimi dagegen inszeniert sich als Verteidiger des Rechtsstaates, der die Interessen «des Volkes» vertritt und angetreten ist, ein korruptes politisches System zu reformieren. Sadr schliesslich propagiert einen religiösen Nationalismus. Er geisselt die Korruption genauso wie das an einer konfessionellen Zugehörigkeit orientierte politische System. Er steht für eine explizit irakische Schia, wodurch er sich vom iranischen Einfluss abzugrenzen sucht.
Die aktuelle Konfrontation dreht sich somit nicht nur um die Frage, wer aktuell Anteil an der politischen Macht hat. Es geht vielmehr darum, das System des irakischen Staates selber zu bestimmen, wobei für die jeweils unterlegene Seite kein Platz mehr vorgesehen ist.
Den Krieg vor Augen
Im Irak steht gegenwärtig viel auf dem Spiel. Der Drohnenangriff auf Premierminister Kadhimi war ein erster Schritt hin zu einer Eskalation. Sollten sich die Milizen in ihrem Anspruch auf den Staat oder gar in ihrer Existenz bedroht fühlen, droht ein militärischer Konflikt, vielleicht sogar ein Krieg. Wird Kadhimi dieses Wagnis eingehen und gegen die Milizen vorgehen?
Der Premier ist ursprünglich als Kompromisskandidat in sein Amt gehievt worden. Seine Stärke lag seither denn auch darin, einen Ausgleich zwischen den mächtigen Fraktionen im Irak zu finden. Hilfreich ist ihm dabei auch die Hausmacht, die er sich als ehemaliger Geheimdienstchef aufbauen konnte.
Doch die gegenwärtige Situation bietet nur wenig Spielraum für Kompromisse. Eine Möglichkeit wäre, nur eine der kleineren Unterorganisation der Milizen zur Verantwortung zu ziehen. Im Gegenzug würden die grossen Milizen weiter straffrei ausgehen und ihre Interessen würden bei der anstehenden Regierungsbildung berücksichtigt. Verlierer eines solchen Kuhhandels wären die Demonstrantinnen und Demonstranten, die unter der Gewalt der Milizen zu leiden hatten und deren Entmachtung herbeisehnen.
Möglicherweise sieht sich Kadhimi durch den Drohnenangriff aber auch gezwungen, die Milizen nun offen anzugreifen. Seine Beteuerungen, ausschliesslich «im Rahmen des Rechtsstaats» gegen seine Gegner vorzugehen, vermag die Befürchtungen vor einer gewaltsamen Eskalation kaum zu zerstreuen. Noch ist nicht klar, in welche Richtung das Pendel im Irak ausschlagen wird.