Es ist kaum zu glauben: Da treffen sich Musiker ersten Ranges und spielen vor Ferienpublikum. Sie spielen Stücke zur reinen Unterhaltung, dazwischen Klassik – aber nicht mit erhobenen Zeigefinger, als wäre das Unterhaltende weniger wert. Vielmehr gilt: Nur wer das Klassische souverän beherrscht, kann im Unterhaltenden wirklich gut sein.
Salonmusik
Es ist die pure Lust an der Musik, die hier ausgelebt wird. Von Mitte Juni bis Ende September finden an verschiedenen Orten und in verschiedenen Formationen zum Teil täglich, zum Teil mit wöchentlichem Abstand Konzerte statt. So können die Gäste jeden Morgen von 10.30 Uhr bis 11.30 Uhr im Konzertsaal von St. Moritz Bad ihre Morgenmusik hören.
Das Ganze firmiert unter dem Namen „Salonmusik“. Auf der Website Salonorchester St. Moritz erscheinen zusätzlich die Camerata Pontresina mit ihrer 100-jährigen Tradition und die Fiori Musicali, ein erstklassig besetztes Quartett. Dazu gibt es in wechselnden Formationen Klassische Kammermusik.
Der Witz an dem Ausdruck „Salonmusik“ beziehungsweise „Salonorchester“ besteht darin, dass man damit im ersten Moment etwas verbindet, das nicht so ganz ernst zu nehmen ist. Denn aufgrund der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Musik auf Tonträgern ist allmählich vergessen worden, dass die Salonmusik vor dieser Zeit die einzige Möglichkeit war, auch anspruchsvollere Werke einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
100-jährige Tradition
So haben Komponisten wie Arnold Schönberg, Alban Berg oder Anton von Webern, die normalerweise nicht mit Gassenhauern hervorgetreten sind, zum Beispiel Walzer so bearbeitet, dass sie von Salonorchestern gespielt werden konnten. Und die täglichen „Kurkonzerte“, wie man noch vor ein paar Jahren sagte, haben in St. Moritz und in Pontresina eine 100-jährige Tradtion. Anfangs wurden überwiegend Musiker von der Mailänder Scala engagiert, darunter zum Beispiel ein damals noch junger Cellist namens Arturo Toscanini.
Salonorchester können in ihrer Grösse und Besetzung stark variieren. Sie sind also extrem flexibel und geschmeidig, und im Grunde hängt alles davon ab, dass sie ein genügend breites Repertoire haben, und, wichtiger noch, dass es einen Spiritus Rector, oder wie man in Musikerkreisen sagt, einen Impresario gibt.
Der Impresario
Dieser Impresario ist der Zürcher Flötist und Arzt Dr. Jürg H. Frei. Frei hat eine beachtliche Karriere als Musiker gemacht und war zum Beispiel Schüler von Aurèle Nicolet. Nebenher absolvierte er eine Gesangsausbildung. Er spielte in diversen Orchestern, unter anderem im Tonhalle Orchester Zürich. Aber so gross seine Leidenschaft und seine Begabung für die Musik auch sind, so früh war er sich auch darüber im Klaren, dass die Musik als Beruf mit ganz erheblichen Nachteilen und Risiken verbunden ist.
So entschloss er sich, das Studium der Medizin aufzunehmen. Seine Doktorarbeit schrieb er über Gehörschäden von Orchestermusikern. Diese Arbeit wurde 1982 von der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, und Herbert von Karajan lud ihn ein, im Rahmen von dessen Stiftung Vorträge über „Gehörschäden durch laute Musik“, „Die Wahrnehmung der eigenen Stimme“ und „Musik und Medizin“ zu halten.
Neben seiner Praxistätigkeit in St. Moritz war er zehn Jahre lang Redaktor beim Schweizerischen Musikverband, arbeitete dann am Flughafen Zürich Kloten im "Airport Medical Center" und praktiziert seit gut 17 Jahren als Facharzt für Allgemeine und Arbeitsmedizin in der Notfallpraxis „Permanence“ am Zürcher Hauptbahnhof. Er ist ein Arzt, wie man ihn sich wünscht: genau fragend und zuhörend, seinen Sinnen trauend, gezielt und präzis untersuchend. Auf seinem Schreibtisch liegt links von ihm eine Piccoloflöte. Ein diskreter Hinweis auf die andere Seite des Herrn Doktor.
Unbändiges Vergnügen
In den Monaten von Juni bis September reduziert Frei seine Praxistätigkeit um 50 Prozent, denn dann tritt er überwiegend im Engadin als Musiker auf. Seine Auftritte als Flötist sind aber der weitaus geringste Teil seines Engagements. Denn er ist derjenige, der das Ganze organisiert, die Musiker engagiert, die Programme zusammenstellt und zum Beispiel Tausende von Partituren gesammelt hat und in einer speziellen Musikbibliothek bereit stellt. Vor zwei Jahren erhielt Jürg Frei für seine Verdienste den Kulturpreis von St. Moritz.
Wie funktioniert Kultur, was treibt sie an? Die sommerlichen Musikdarbietungen in St. Moritz, Sils Maria und Pontresina leben von etwas, was im üblichen kommerzialisierten Musikbetrieb nicht in dieser Weise sichtbar wird. Da ist das unbändige Vergnügen am Musizieren. Zu diesem Vergnügen gehört auch, das Anspruchsvolle, das Ernste und Erhabene mit dem Unterhaltsamen und Lustigen zu verbinden. Wirkliche Könner haben ja immer einen Schalk im Auge. Das ist das eine.
Spontaneität
Das andere liegt darin, dass die Musiker während der Sommermonate im Oberengadin jeweils ein anderes Verhältnis zu ihren Zuhörern gewinnen, als dies bei den üblichen Konzertveranstaltungen der Fall ist. Das Publikum ist anders aufgestellt, anders motiviert, und es gibt regelmässige Konzertbesucher. Manche Aufführungen finden unter freiem Himmel statt.
Weitere Motive kommen für die Musiker hinzu. So ist es für sie reizvoll, einmal in einer anderen Formation als in grossen Orchestern zu spielen. Zudem wechseln täglich die Programme, und man hat nur wenig Zeit zum Proben. Da sind Spontaneität und Improvisationstalent gefragt. In dieser Konstellation werden, so räumt Jürg Frei ein, nicht unbedingt die Spitzenleistungen hoch professioneller Orchester erreicht, dafür gehe aber ab und zu „die Post ab“.
Übrigens geht am 28. November 2015 wieder die Post ab, wenn das Salonorchester zum wiederholten Male im Lichthof des Hauptgebäudes der ETH Zürich beim Fest „Weltenbummler“ auftritt. Gespielt werden Walzer, Marsch, Foxtrott, Tango und Galopp – von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr morgens.