Die Türkische Regierung hat mit erstaunlicher Geschwindigkeit erklärt, sie habe den Verantwortlichen für den blutigen Bombenanschag von Mittwochabend auf einen Militärkonvoi in Ankara identifiziert. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu erklärte schon einen Tag nach dem Anschlag: «Es wurde mit Sicherheit festgestellt, dass dieser Angriff von Mitgliedern der terroristischen Organisation in der Türkei durchgeführt wurde in Zusammenabeit mit einem Mitglied der YPG, das von Syrien her eingedrungen war. (...) Der Angriff hat eine direkte Verbindung mit PYD.» – PYD, die Demokratische Einheitspartei, ist die führende kurdische Partei in Nordsyrien; die YPG, Volksverteidigungskräfte, ist deren Miliz.
Der Ministerpräsident nannte einen gewissen Saleh Necar als Selbstmordbomber. Präsident Erdogan erklärte am gleichen Tag: «Diese Vorgänge werden unseren Freunden, die wir bisher nicht hatten überzeugen können, helfen besser zu verstehen, wie stark die Verbindungen sind zwischen der PYD und YPG in Nordsyrien und der PKK in der Türkei.»
Syrischen Kurden dementieren
Journalisten wurde mitgeteilt, die DNA-Identifikation von Überresten des Attentäters habe bestätigt, dass es sich um den erwähnten Saleh Necar handle, einen Syrer, der zu der syrischen Kurdenmiliz YPG gehöre und im Einklang mit der PKK gearbeitet habe. Die YPG hat diesen Vorwurf energisch zurückgewiesen. Eine Sprecherin der kurdischen Verwaltung der syrischen Kurdengebiete (von den Kurden «Rodschawa» genannt) sagte: «Dies ist eine grosse Lüge. Die YPG ist eine demokratische Kraft, die entsprechend Gesetz, Ethik, Demokratie und Menschenrechten wirkt. Die YPG hat nichts mit der Türkei zu tun. Sie kämpft nur in Rodschawa und in Syrien.»
Beobachter der kurdischen Szene sagen aus, die YPG habe in der Tat bisher nie mit Bombenanschlägen oder Selbstmordbomben gearbeitet.
Wenn man fragt, wem eine Anklage der YPG nützt, so ist klar: der gegenwärtigen türkischen Politik. Die Türkei setzt zur Zeit Artillerie ein, um die YPG daran zu hindern, auf der syrischen Seite der türkisch-syrischen Grenze die Lücke zu schliessen, welche die kurdisch beherrschten Grenzgebiete im Osten von der ebenfalls kurdischen Enklave im Westen der Grenze trennt. Die Türkei hat viele Male erklärt, sie werde mit allen Mitteln verhindern, dass diese Lücke geschlossen werde.
Allianz der USA mit syrischen Kurden
Die amerikanischen Militärs arbeiten mit den Kurden der YPG zusammen, weil diese die wirksamsten Kämpfer gegen den IS stellen. Der Machtbereich des IS beginnt südlich von dem kurdischen Grenzstreifen Rodschawa. Die erwähnte Lücke, deren Schliessung die Türkei zu verhindern gedenkt, bildet den letzten Verbindungsweg an die türkische Grenze, über den der IS noch verfügt. Alle anderen Grenzübergänge an der Nordgrenze Syriens befinden sich unter kurdischer Kontrolle. Die Schliessung der Lücke wäre daher ein wichtiger Schritt zur Isolierung des IS.
Dies dürfte ein weiterer Grund sein, weshalb die Amerikaner geneigt sind, der YPG zu helfen. Auch die Russen unterstützen die YPG, indem sie nördlich von Aleppo sowohl Positionen des IS wie auch solche der nicht zum IS gehörigen «gemässigten» Rebellengruppen bombardieren, jedoch nicht jene der YPG. Dies erlaubt es den kurdischen Milizen zurzeit, trotz der türkischen Beschiessung weiteres Gelände in der strategisch wichtigen Lücke zu gewinnen.
Streit zwischen Russland und der Türkei
Die Beziehungen zwischen den Russen und der Türkei sind gegenwärtig sehr angespannt. Weder Putin noch Erdogan nehmen ein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, einander Vorwürfe zu machen. Die Türken haben ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen, und die Russen haben einen Wirtschaftboykott über die Türken verhängt.
Russische Kampfflugzeuge operieren weiterhin unmittelbar an der türkischen Grenze. Unter diesen Umständen wäre es für die Türkei von grossem Vorteil, wenn sie die Zusammenarbeit der Amerikaner mit den Milizen der kurdischen YPG stoppen könnten. Erdogan und seine Sprecher haben die Amerikaner des öfteren aufgefordert, mit der YPG zu brechen. Sie sagen, die YPG sei nur der syrische Ableger der PKK. Die Türkei behauptet, es komme vor, dass YDP Kämpfer mit solchen der PKK zusammenarbeiteten und umgekehrt.
Innerer und äusserer Krieg mit der PKK
Mit der PKK, die nicht nur von der Türkei sondern auch von den Amerikanern und mehreren europäischen Staaten als «terroristisch» eingestuft wird, steht die Türkei zur Zeit in einem doppelten Krieg. Dieser wird mit der Luftwaffe geführt, welche Asyl- und Operationsbasen der PKK im Grenzgebiet zwischen dem Irak und der Türkei, den Qandil-Bergen, zu treffen und zu eliminieren sucht. aZudem belagert die türkische Armee die unruhigen Kurdenquartiere in den Städten Cizre (100’000 Bewohner) und Silope (80’000). Stadtteile, in denen viele Kurden wohnen, wie der Sur-Distrikt der Millionenstadt Diyarbakir, werden belagert oder mit wochenlangen Ausgehverboten belegt. Die türkische Armee hat 10’000 Mann unter sechs Generälen für diese Kämpfe im eigenen Land eingesetzt.
Der klassische Kampf gegen die PKK spielte sich bisher eher auf dem Lande als in den Städten ab. Die PKK versucht nun schon seit dreissig Jahren (mit einer dreijährigen, aber im vergangenen Sommer abgebrochenen Pause für – erfolglose – Friedensverhandlungen) die türkische Armee zu schädigen, indem sie auf den Verbindungsstrassen innerhalb der kurdischen Gebiete der Türkei und an deren Grenzen Minen hochgehen lässt. Immer wieder fallen türkische Militärtransporte solchen Angriffen zum Opfer, zum letzten Mal am vergangenen Freitag mit dem Tod von sechs Soldaten.
Doch Strassenkämpfe mit Barrikaden innerhalb der kurdischen Städte sind neu. Es dürften nicht die ausgebildeten Kämpfer der PKK sein, die sich mit solchen mehr oder weniger bewaffneten Protestbewegungen abgeben, sondern vielmehr mit der PKK sympathisierende kurdische Jugendliche, die es wagen, die Kräfte des türkischen Staates zu provozieren, deren Schlagkraft und Bereitwilligkeit, mit voller Entschlossenheit zuzuschlagen, sie wahrscheinlich unterschätzen.
Nicht im Interesse der syrischen Kurden
Der grosse Anschlag von Ankara passt nicht zu den bekannten Methoden der PYD. Er passt aber sehr wohl zu jenen der PKK. Es läge auch nicht im Interesse der syrischen Kurden, Ankara weiter herauszufordern. Die PKK hingegen sucht die Herausforderung mit allen Mitteln, seitdem der Waffenstillstand zusammengebrochen ist.
Einen Zusammenhang zwischen der PKK und angeblichen Mitgliedern der PYD zu konstruieren, dürfte für die türkischen Geheimdienste, denen die Aufklärung des Anschlags obliegt, keineswegs schwierig sein. Dass dieser Zusammenhang für die Türkei diplomatisch und politisch wünschenswert ist, zeigt auch der Umstand, dass der türkische Stellvertretende Aussenminister, Feridun Seperlioglu, die Botschafter der P5-Mächte (China, Frankreich, Grossbritannien, Russland, USA) in Ankara eingeladen hat, mit ihm «an dem Beweis teilzuhaben, dass die PYD diesen Anschlag verschuldet hat.»
Doch am Samstag meldete eine Splitterpartei der PKK, die sich TAK, nennt (für «Kurdische Freiheitsfalken»), sie sei für den Anschlag verantwortlich. Es handle sich um einen Akt der Rache für die Untaten der türkischen Armee in der Stadt Cizre. Der Selbstmordattentäter sei ein Mann aus der ostanatolischen Stadt Van und türkischer Nationalität, sagte TAK.