Ich erinnere mich noch dunkel, wie die ganze Familie in Berlin, Hauptstadt der DDR, um den kleinen, schwarzen Radioapparat versammelt war. «Jetzt haben die Idioten es doch gemacht», sagte mein Vater, der als überzeugter Antifaschist und Kommunist 1949 in den damals besseren Teil Deutschlands übersiedelt war, in dem ich dann geboren wurde. Unsere Ausreise aus dem ersten sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden wurde durch den Mauerbau um zwei Jahre verzögert, aber das wäre eine andere Geschichte.
Bereits nach den Unruhen vom 17. Juni 1953 begann die DDR damit, ihre Grenzen gegen innen weiter zu befestigen, um eine massenhafte «Republikflucht» zu verhindern. Der kommunistische Stückeschreiber Bertolt Brecht veröffentlichte ein wunderschönes Gedicht, das zu Unrecht fast vergessen ist und daher hier zitiert werden muss:
Im Hofe steht ein Pflaumenbaum,
Der ist so klein, man glaubt es kaum.
Er hat ein Gitter drum,
So tritt ihn keiner um.
Der Kleine kann nicht größer wer'n,
Ja - größer wer'n, das möcht' er gern!
's ist keine Red davon:
Er hat zu wenig Sonn'.
Dem Pflaumenbaum, man glaubt ihm kaum,
Weil er nie eine Pflaume hat.
Doch er ist ein Pflaumenbaum:
Man kennt es an dem Blatt.
Abstimmung mit den Füssen
Bis zum Bau der 167,8 km langen Mauer um West-Berlin herum (und der weiteren Befestigung der 1378 km langen Grenze zur BRD) waren rund 3,5 Millionen Menschen aus der DDR geflohen. Ein unerträglicher Aderlass von häufig hochqualifizierten Arbeitern, die die Schnauze voll davon hatten, sich weiter am Aufbau des Sozialismus nach Ulbricht-Art zu beteiligen. Der damalige Staatsratsvorsitzende hatte noch am 15. Juni 1961 an einer Pressekonferenz gefistelt: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.»
Aber auch Ulbricht war Opfer und Täter zugleich. Er war Opfer der stalinistischen Machtpolitik nach dem 2. Weltkrieg. Der sowjetische Diktator hatte verkündet, dass alle alliierten Siegermächte ihr Gesellschaftssystem in dem Teil Europas errichten werden, das sie vom Faschismus befreit hatten. Während der Westen aber mit dem Marshall-Plan «seinem» darniederliegenden Teil Deutschlands schnell auf die Beine half, musste die genauso zerstörte DDR gigantische Reparationszahlungen an die UdSSR leisten. Nach den unendlichen Verheerungen, die der Hitler-Faschismus bei seiner Invasion der Sowjetunion angerichtet hatte, zwar verständlich, aber kurzsichtig und falsch.
Das Symbol der Niederlage
Intellektuelle, Dichter und Antifaschisten, und deren gab es viele, konnten sich noch so bemühen, den Mauerbau als friedensbewahrende Massnahme im Kalten Krieg, als schmerzliche, aber nötige Verteidigung gegen mögliche imperialistische Eroberungsgelüste, als Bewahrung des Status quo, als Realpolitik zu verteidigen. Selbst US-Präsident John F. Kennedy, der sich öffentlich mit dem berühmten Satz «Ick bin ein Berliner» in die Herzen der Deutschen sprach, analysierte im kleinen Kreis kühl: «Keine sehr schöne Lösung, aber immer noch tausendmal besser als Krieg.»
Nichtsdestotrotz war die Mauer ein Symbol der Niederlage, propagandistisch, politisch und wirtschaftlich. Der manifeste Beweis, dass es der UdSSR nicht gelungen war, in den von ihr befreiten Teilen Europas die Bevölkerung von der Überlegenheit ihres Gesellschaftssystems zu überzeugen. Wie ein giftiger Stachel im Fleisch steckte mitten in der DDR West-Berlin, das glitzernde Schaufenster des Westens. Und jeder Fluchtversuch, jeder Tote an der Mauer (alleine in Berlin gab es schätzungsweise 245 Opfer des Schiessbefehls) war nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern eine weitere Bankrotterklärung des DDR-Sozialismus.
Finger auf dem roten Knopf
Keine Entschuldigung ist auch, dass man sich heute vergegenwärtigen muss, wie nahe unser Planet damals mehrfach am Rande eines Atomkriegs stand. Als sich am 27. Oktober 1961 am Checkpoint Charlie in Berlin sowjetische und US-Panzer in Schussweite gegenüberstanden, hielt die Welt den Atem an, waren die Finger der Militärs in Moskau und im Pentagon wohl nur Millimeter vom roten Knopf entfernt, der den präventiven Erstschlag ausgelöst hätte. Denn damals galt die perverse Logik, die Stanley Kubrick in seinem genialen Film «Dr. Strangelove» auf den Punkt brachte: Wir können euch vernichten, ihr uns auch. Wenn wir euch jedoch zuerst mit allem bombardieren, was wir haben, dann könnten wir gewinnen. Aber Moment, vielleicht denkt ihr das gerade auch, also worauf warten wir noch?
Jeder Verteidiger des real existierenden Sozialismus konnte ab 1961 in wohlgesetzten Worten die Vorteile, die Überlegenheit, die Pracht, die zukünftigen elysischen Zustände im Sozialismus besingen. Aber auf die einfache Frage, wieso dann dieses Paradies eine Mauer errichten musste, und nicht etwa, um dem Ansturm verzweifelter Menschen aus dem Kapitalismus Herr zu werden, sondern um die eigenen Bürger an der Flucht zu hindern, gab es natürlich keine Antwort. Beiderseitige Realpolitik, erinnert sei nur an die vom Rechtsausleger Franz-Josef Strauss eingefädelten Milliardenkredite der BRD an die DDR, sorgte dann dafür, dass die Mauer immerhin über 28 Jahre lang stehen blieb.
Bahnhof Friedrichstrasse
«Erkennen heisst nicht anerkennen», war jahrelang die genauso absurde Politik der BRD gegen den eingemauerten armen Bruder im Osten, in der gesamten Springer-Presse musste bis zu ihrem Ableben die „DDR“ in Anführungszeichen gesetzt werden. Die neue Ostpolitik Willy Brandts sorgte dann zumindest für Entspannung, selbst Republikflüchtlinge wie ich durften ab den 70er-Jahren wieder in die DDR reisen, am einfachsten durch die kafkaesken Grenzkontrollen am Bahnhof Friedrichstrasse in Berlin.
Ein Verlassen der sogenannten Transitautobahnen von der BRD nach West-Berlin war aber nicht gestattet, und auch die Überprüfung des Autos beim Verlassen der DDR durch streng blickende Volkspolizisten (Vopos), die offen mit Spiegeln die Unterseite und insgeheim mit Röntgenapparaten den gesamten Wagen auf menschliches Schmuggelgut überprüften, waren historische Erlebnisse. Ebenfalls, dass solche Reisen von Kalten Kriegern in der Schweiz in Fichen festgehalten wurden.
Das Ende mit einem Stammeln
Nachdem Michail Gorbatschow mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika klar gemacht hatte, dass die UdSSR nicht mehr länger bereit war, wie noch in Ungarn oder der Tschechoslowakei militärisch einzugreifen, war das Schicksal der DDR und auch der Mauer besiegelt. Das Mitglied des Politbüros der SED, Günter Schabowski, sorgte dann an einer Pressekonferenz am 9. November 1989 für das Ende als Treppenwitz der Geschichte.
Auf die Frage, wann denn genau die angekündigten Reiseerleichterungen für DDR-Bürger in Kraft treten würden, antwortete er: «Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.» Tausende Ost-Berliner trauten zuerst ihren Ohren nicht, dann machten sie sich massenhaft zu den Grenzübergängen auf. Und wurden dort nicht mehr erschossen, sondern durchgewinkt. Immerhin, so viel bürokratische Ordnung musste noch sein, wurde ihnen anfänglich noch ihr DDR-Pass ungültig gestempelt, schliesslich begingen sie amtlich gesehen Republikflucht. Dieses Vergehen erledigte sich dann aber durch das Ende der Deutschen Demokratischen Republik.