Das Buch verkauft sich hervorragend. Im Rheinland sagt man dazu „wie geschnitten Brot“. Aber das ist keine Überraschung, sondern ein von den Autoren wie vom Verlag gekonnt inszenierter Coup.
Anfang Oktober kam im Münchner Heyne-Verlag „Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle“ des Autoren-Gespanns Heribert Schwan und Tilman Jens heraus – ein Opus, das der Verlag mit einer Startauflage von 100`000 Exemplaren auf den Markt warf.
Ein erbitterter Streit
Das Interesse wird durch die Hauptfigur Helmut Kohl geweckt, aber noch mehr Schubkraft entwickelte die im Vorfeld des Erscheinens ausgelöste, höchst kontroverse Diskussion. Da spielten einerseits die unvorteilhaften bis drastischen Zitate des Altkanzlers zu seinen diversen privaten und politischen Zeitgenossen eine Rolle. Wichtiger noch war aber der erbittert und lautstark ausgetragenen Streit um die Frage, ob und inwieweit die Autoren sowohl juristisch als auch journalistisch-ethisch gegen früher nie infrage gestellte Verhaltensmaßstäbe verstoßen haben.
Die hier angestellten Betrachtungen über das Schwan/Jens´sche Produkt sollen auch keine Wiederholung der ohnehin schon massenhaft rauf und runter publizierten Qualifizierungen Helmut Kohls mit Blick auf seine zahlreichen inner- und außerparteilichen Weggefährten sein.
Wer den Pfälzer von seinem Aufstieg zum Weltpolitiker bis hin zum unrühmlichen Ende im Zusammenhang mit der CDU-Spendenaffäre beobachtend begleitet hat, für den stellen die angeblich so „sensationellen Enthüllungen“ ohnehin keine Überraschung dar. Selbst engen Freunden und loyalen Beratern des 1,93-Meter-Hünen aus Ludwigshafen hat sich nie wirklich erschlossen, wie ein Staatsmann mit Weltformat und mit Sicherheit einer der erfolgreichsten Kanzler dieser Republik gleichzeitig ein nachtragender Kleingeist, sogar mit Freude an der Demütigung und Erniedrigung anderer Menschen, sein konnte und offensichtlich sogar im Zustand eingeschränkter Gesundheit noch immer sein kann.
Geschickter Rachefeldzug
Was – wenn nicht die Enthüllung von „ungeglätteten“ Kohl´schen Verbalinjurien – ist also das Besondere an dem Bestseller? Ein „Vermächtnis“ des einstigen Regierungschefs, wie der Titel sagt, ist es ganz gewiss nicht. Im Gegenteil – schließlich klagt der milde vom Umschlagbild Herablächelnde erbittert gegen das Buch. Zunächst (vergeblich) gegen dessen Erscheinen überhaupt, und inzwischen gegen die Verwendung der Zitate.
Um es ganz einfach beim Namen zu nennen: Dieses Werk von Heribert Schwan und Tilman Jens (ältester Sohn des 2013 verstorbenen Rhetorik-Professors, Literatur-Historikers und vielleicht letzten Universal-Denkers, Walter Jens) ist ein Revanche- bis Rachefeldzug gegen den Mann aus dem Ludwigshafener Vorort Oggersheim. Aber ein finanziell erfolgreicher allemal. Wobei nicht ganz deutlich wird, inwieweit Jens ebenfalls handelnde Person oder allenfalls nützlicher Helfer Schwans ist.
Bis zu einem gewissen Grad kann man sogar Verständnis für die Handlungsweise aufbringen. Der einstige Deutschlandfunk-Redakteur Schwan war u.a. über dessen Frau Hannelore in Kontakt mit Helmut Kohl gekommen und hatte dessen Vertrauen sogar so weit gewonnen, dass er zum Ghostwriter für die Memoiren des einstigen Kanzlers avancierte. Zur Erinnerung: Kohl brauchte zu Beginn des neuen Jahrtausends die Buch-Honorare dringend, um die von ihm angekündigte „Wiedergutmachung“ für den Schaden leisten zu können, die er mit seinen nie öffentlich gemachten schwarzen Konten für die CDU angerichtet hatte. Tatsächlich sammelte er über Spenden und Honorare seinerzeit rund 6,3 Millionen Mark ein.
Fleißiger Geisterschreiber
Kurz: Heribert Schwan kam – wie er in dem Vorwort von „Vermächtnis“ selbst schreibt – „ganz nah an Helmut Kohl ran“. In mehr als 600 gemeinsamen Stunden erzählte der gestürzte Polit-Koloss teilweise böse, teils aber auch amüsiert aus seinem Leben und von seinen Begegnungen und Auseinandersetzungen. Daraus entstanden drei Memoirenbände, bei deren Abfassung sich der Geisterschreiber korrekt an die vertragliche Abmachung hielt, dass alle Zitate und Äußerungen zuvor von Kohl autorisiert werden müssten. Diese redaktionellen Endfassungen scheinen offensichtlich auch ganz gut geklappt zu haben. Bis eines Tages Maike kam…
Maike Richter (50), studierte Volkswirtin, ist nach dem Suizid von Hannelore Kohl im Juli 2001 seit Mai 2008 zweite Ehefrau des Ex-Kanzlers. In seinem Vorwort zum „Vermächtnis“ beschreibt Schwan ausführlich, wie die Frau zunehmend mit besserwisserischen, rhetorischen Eingriffen (z. B. wegen der in ihren Augen zu positiven Beschreibung von Hannelore Kohl) das bis dahin harmonische Arbeitsverhältnis zwischen dem Erzähler und seinem Biografen ge- und schließlich zerstört habe. Dann kam der Tag, an dem Schwan von Kohls Essener Anwaltskanzlei Holthoff-Pörtner kurz und bündig mitgeteilt wurde, die Kooperation sei mit sofortiger Wirkung beendet. Später musste der Journalist aufgrund eines Kölner Landgerichtsurteils sogar sämtliche Kassetten rausrücken; doch natürlich hatte er diese vorsorglich abtippen lassen und nun daraus die berühmten Zitate gezogen.
Verständlicher Ärger, aber…
Wie gesagt, der Ärger, ja die Wut über diese Art der Ausbootung ist verständlich. Aber wird dadurch die Folge, die Reaktion gerechtfertigt? Die Antwort ist eindeutig: Nein! Schwan war eine Abmachung mit Kohl eingegangen, die neben anderem das Recht am eigenen Wort einschloss – ein fast geheiligter journalistischer Grundsatz. Genauer: Ein Wort-Interview oder ein wörtliches Zitat im Zusammenhang mit einer Buchveröffentlichung bedarf zunächst der Freigabe durch die zitierte Person. Wenn sich daran nicht mehr gehalten, dieses Dogma also gebrochen wird, dann wird wahrscheinlich kaum mehr jemand - und zwar nicht nur aus der Politik – bereit sein, wirklich Interessantes oder Wichtiges von sich zu geben. Es geht, mithin, um Vertrauensschutz.
Und genau dagegen ist im Falle Schwan/Jens eklatant verstoßen worden. Zudem zeugt der szenische Aufbau des Buches von einer ebenso geschickten wie perfiden „Dramaturgie“. Darin wird an das Mitgefühl der Leser mit dem so ungerecht behandelten Geisterschreiber appelliert und mit der in der Gesellschaft weit verbreitete Lust am Voyeurismus gespielt. Das geht nach dem Motto: Da kann man mal wieder sehen, wie es bei denen da oben in Wirklichkeit zugeht…
Dazu kiommt eine gekonnte Aufgabenverteilung. Erstens: Die Einleitung Schwans mit der Beschreibung seiner „Nähe“ zu Kohl und der – in der Tat miesen – Behandlung am Ende. Zweitens: Die ausführlich im Originalton zitierten Äußerungen des Alt-Kanzlers über Freunde, Feinde und überhaupt - aus der Feder von Ko-Autor Tilman Jens. Obwohl dieser bei den eigentlichen Begegnungen gar nicht anwesend war und daher ausschließlich auf Grundlage der kopierten Tonbänder schrieb, sei durchaus zugestanden, dass er in vielen Bereichen sowohl die Stimmung als auch die jeweilige Befindlichkeit Helmut Kohls richtig trifft. Dazu gehört, nicht zuletzt, die absolute Ich-Bezogenheit des Mannes, verbunden mit dem Anspruch, mehr oder weniger total über andere und deren Tun zu bestimmen.
Vergiftete Laudatio
Dieser Teil – mitunter schon fast ein Psychogramm des Ludwigshafeners – nimmt den mit Abstand breitesten Teil des Buches ein. Nun ist Tilman Jens ja keineswegs ungeübt in der Beschreibung von Seelenzuständen. Mancher wird sich vielleicht noch an die Öffentlich-Machung der Demenzkrankheit seines Vaters 2008 durch den Sohn und deren Vorveröffentlichung in der „Bild“-Zeitung erinnern. Diese Indiskretion war mit der These verbunden, diese Krankheit sei eine Reaktion auf die Verstrickung von Walter Jens mit dem Nationalsozialismus. Und schon einmal Jahre davor, im Februar 1984, hatte Tilman Jens von sich reden gemacht, weil er, Reporter beim „Stern“, im britischen Sheerness in das Haus des verstorbenen Schriftstellers Uwe Johnson eingedrungen war, um sich die bis dahin unbekannten Manuskripte („Beichtbuch“) von Johnsons zweiter Frau Elisabeth für eine Reportage anzueignen. Der „Stern“ hatte ihn daraufhin fristlos gekündigt, und Jens spricht heute von einem „schweren Fehler“…
Es gibt noch einen dritten Teil des angeblichen „Vermächtnisses“. Und der stammt wieder von Heribert Schwan selbst und ist mitunter richtig komisch. Der Autor versichert dort nämlich, dass er trotz der an ihm begangenen Verfehlungen Helmut Kohl unverändert für einen bedeutenden, herausragenden Politiker, Staatsmann und Lenker der Weltgeschichte betrachte. Mit anderen Worten: Schwan erteilt dem Sünder die Absolution. Nach dem Motto, wer selbst ohne Fehl, der werfe den ersten Stein. Bis dahin, freilich, sind ganze Felsbrocken geflogen. Immerhin zur Freude der beiden Journalisten und des Heyne-Verlages.
Herbert Schwan/Tilman Jens, Das Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle, Wilhelm-Heyne-Verlag-München