Mit diesem Horizont vor Augen bin ich in Küsnacht aufgewachsen: Rechts Richtung Zürich der Uetliberg mit dem Aussichtsturm (ein weit höherer Sendeturm mit blinkendem Rotlicht ist später dazu gekommen), schräg vis-à-vis die Falätsche, welche für Kinderaugen wie das drohende Gesicht eines schlafenden Riesen aussah, weiter links die Buchenegg und der Albispass.
Ein Horizont ist eine Grenze. Er bestimmt die Wahrnehmung der eigenen Umgebung, prägt die Vorstellung über das Hier und das Dort, das Vertraute und das Fremde, macht neugierig und regt zu virtuellen Reisen ins Unbekannte an, lange bevor man diese Grenze selbst überschreiten kann.
Für den Buben einer Familie ohne Auto gab es nur zwei Routen in die übrige Welt: Mit der Bahn seeabwärts nach Zürich und in die „übrige Schweiz“, die ich lange nur aus Erzählungen der Eltern kannte, oder mit dem Zug seeaufwärts nach St. Gallen, der Stadt der Grossmutter, und in die Berge, nach Preda im Albulatal, wo wir jeweils die Sommerferien verbrachten.
Blickte ich nach Zürich, meinte ich dahinter die geheimnisvollen Städte der westlichen und südlichen Schweiz zu sehen, die ich aus Kalenderbildern kannte, den Vierwaldstättersee mit dem Rütli, die trutzige Hauptstadt Bern, den Neuenburger- und Genfersees mit den Schlössern und Burgen. Das sei nicht so, lehrte mich mein Vater, in Blickrichtung hinter Zürich liege der Rhein und jenseits von ihm ein anderes Land, im dem bis vor kurzem ein Krieg getobt habe und die Städte zerstört seien. Jene Schweiz, von der ich träume, liege viel weiter links, hinter dem Albispass.
Die Schweiz hinter dem Albispass? – Ich glaubte meinem Vater nicht, bis wir eines schönen Sonntages mit der Bahn nach Zürich fuhren, zu Fuss durch die Stadt zum Bahnhof Selnau gingen und dort einen kleinen roten Zug bestiegen. Die Uetlibergbahn brachte den staunenden Buben durch einen grossen Wald hinauf zu jenem Berg mit dem Aussichtsturm, den er seit frühester Kindheit vor Augen gehabt hatte. Von dort schaute er weit übers Land, hinüber zum Jura, hinter dem, wie sein Vater erklärte, die Stadt Basel liege, die wenige Jahre später – das wussten sie beide damals noch nicht – zur neuen Heimat werden sollte, über das Reusstal zum Lindenberg, der die Sicht auf Bern und Genf verstellte, und – weiter links – zum Pilatus, zum Rigi und zu den weissen Riesen in der Ferne.
Habe ich nach diesem Ausflug die Albiskette mit anderen Augen gesehen? – Ich erinnere mich vor allem an eines, an meine Enttäuschung darüber, dass die Hinterseite meines „Gebirges“ weit weniger spektakulär ist als erwartet und sich sanft über Wiesen und Wälder gegen die „übrige Schweiz“ absenkt. Auch der Weg auf dem Grat, den ich mir als einen schmalen Pfad vorgestellt hatte, über den man zu balancieren hat wie ein Seiltänzer, entpuppte sich in Wirklichkeit als breites Strässchen.
Doch irgendwie muss es mir gelungen zu sein, die „Würde“ meines Berges gegen die ernüchternde Erkenntnis von damals zu verteidigen. Wenn ich heute zum Albis hinüber schaue, ist er noch immer der geheimnisvolle Berg der Kindheit, der die Sehnsucht nach Horizontüberschreitungen weckt. Sporadisch überkommt mich der Drang, von dort wieder einen Blick in die jenseitige Welt zu werfen. Wieso nicht jetzt, da der Winter dem Albis bislang eine ordentlichen Schneedecke vorenthalten hat?
Das Morgenschiff, das sich bei Schülern und Berufstätigen grosser Beliebtheit erfreut, bringt mich von Küsnacht über den See nach Thalwil. Ich gehe das steile Strässchen zum Bahnhof hinauf, wo der 240er Bus nach Hausen am Albis wartet. Eine dichte Nebeldecke liegt über dem Zürichsee. Am Morgen habe ich die Webcam auf dem Uetliberg konsultiert und besorgt beobachtet, wie Nebelfetzen zum Kulm hinauf züngelten. Während der Fahrt zum Albispass frage ich mich, ob dieser nicht bereits im Nebel liege.
Meine Sorge ist unbegründet. In der letzten Doppelkehre vor dem Albispass sehe ich erstmals blauen Himmel durch das milchige Weiss leuchten. Knapp unterhalb der Passhöhe (790 m ü.M.) lassen wir die Suppe endgültig hinter uns. Noch steht die Sonne tief über dem Horizont und modelliert die Strukturen der wogenden Wolken. So schön und verlockend es hier oben auch ist, ich bin offenbar der Einzige, der aussteigen darf; die wenigen anderen Passagiere lassen sich stoisch zurück in die Finsternis chauffieren.
Mein heutiges Ziel ist die südliche Albiskette. Der breite Weg führt einer Weide entlang hinauf zum Wald. Zwischen den dunklen Stämmen der Fichten blendet mich immer wieder die tief stehende Sonne. Nach zwanzig Minuten erreiche ich den hölzernen Aussichtsturm auf der Hochwacht (877 m ü.M.). Das Stufenzählen ist schon fast zwanghaft: Acht Etagen à je 19 Stufen zähle ich beim Aufstieg. Aus geheimnisvollem Grund scheint die Primzahl 19 den Turmbauern heilig zu sein. – Auch der Turm auf dem Loorenchopf, eine ähnliche Holzkonstruktion, hat je 19 Stufen, allerdings nur 6 Etagen.
Oben geht mein Atem etwas kurz. Ich schreibe es der atemberaubenden Aussicht zu. Wie der gekrümmte Körper eines Drachens liegt der Albis im Nebelmeer.
Wie sind wir doch verwöhnt: Keine ÖV-Stunde von Zürich entfernt könnte man glauben, die Zeit sei vor zweihundert Jahren still gestanden. Nur der diffuse Lärmteppich von der Autobahn durchs Säuliamt erinnert dran, dass dort in der Tiefe, züchtig verborgen vom Nebel, die Schweizer Landschaft nicht mehr so ganz heil aussieht wie damals, als man im ausgehenden 19. Jahrhundert die Natur zu entdecken begann.
Hinter der Hochwacht führt der Weg zuerst steil abwärts, dann zweigt links eine Spur ab, auf der man über die Krete zur Ruine Schnabelburg gelangen kann. Zumindest hier entspricht der schmale Grat den einstigen Vorstellungen des Küsnachter Kindergärtners. Doch der ältere Herr erspart sich den Balanceakt auf dem glitschigen Pfad und wählt den signalisierten Wanderweg, welcher der Bergflanke entlang die Schnabelburg westlich umrundet und direkt zu den beiden Schnabellücken führt.
Über die Schnabelburg scheint man nicht viel zu wissen. Sie muss im 12. Jahrhundert durch die Zähringer erbaut und später von den Habsburgern übernommen worden sein. Wie lange sie bewohnt war, ist unklar. Die Schnabellücken (801 m ü.M.), zwei nahe beieinander liegende Einschnitte ungefähr in der Mitte zwischen dem Albispass und dem südlichen Ende der Albiskette bei Sihlbrugg, müssen in früheren Jahrhunderten als Übergang zwischen dem Knonauer Amt und dem Sihltal bzw. dem Zürichsee eine gewisse Bedeutung als Handels- und Transportroute gehabt haben.
Der Anstieg von den Schnabellücken zum Bürglenstutz (oder Bürglen, wie er auf neueren Landkarten heisst), dem höchsten Punkt des Albis (914 m ü.M.), stellt, vom Zürichsee aus gesehen, die markanteste Struktur des Albisgrates dar. (Den Schöpfern der Bronzetafel sei die Aufrundung der Höhe auf 915 m verziehen.)
Über eine Distanz von weniger als 400 m steigt die Krete um etwa 110 Meter. Während ich bedächtig den Zickzackweg hinaufgehe, kommt mir wedelnd ein schwarzer Labrador entgegen. Wenn man selber während vielen Jahren Hundehalter gewesen ist, erkennt man schon von weitem an der Körpersprache, was der Hund sagen möchte. Ich strecke ihm meine rechte Hand entgegen. Er begrüsst sie stürmisch und feucht, drückt dann seinen Körper an mein Bein. Ich kraule ihm für ein paar Sekunden die Ohren. Dann hebt er seinen Kopf und lässt seine Augen sprechen: „Das war’s denn, es hat gut getan, aber ich muss weiter!“ – Und schon verschwindet er hinter der nächsten Wegbiegung. Später treffe ich seinen Herrn. „War er anständig?“ fragt er, aber bis ich etwas antworten kann, ist er schon an mir vorbei. – Auch Menschen verstehen sich manchmal ohne Worte.
Der restliche Weg zum Albishorn (909 m ü.M.) ist kurz und ziemlich flach. Der Name beflügelt die Fantasie. Erwartet mich das Zürcher Matterhorn oder wenigstens der grosse Bruder des Tösstaler Hörnlis? – Doch ich will dem Albishorn die Frage nach dem Ursprung seines ambitiösen Namens ersparen; es hat schon genug daran zu tragen, höhenmässig vom benachbarten Bürglen entthront worden zu sein. Seiner Form wegen hat es den Namen wohl kaum, denn die kleine Delle im Albisgrat sieht weder von Osten noch von Westen wie ein Horn aus. Es muss an der Aussicht liegen. Dafür hat es sich wahrlich nicht zu schämen. Der Blick auf den Zürichsee, die Voralpen und Alpen ist einmalig. Und zudem gibt es hier ein Bergrestaurant, in dem man, obschon nicht mit dem Auto erreichbar, bei jedem Wetter andere Leute trifft.
Auf der sonnenbeschienen Terrasse gönne ich mir einen Kaffee mit Apfelkuchen; für das Mittagessen ist es noch zu früh. Gestärkt wandere ich weiter der Krete entlang nach Süden. Nun geht es stetig bergab. Den „Oberen Albis“, ein stattlicher Hof, lasse ich rechts liegen. Später führt der Weg in einer weit gezogenen Kehre in die bewaldete östliche Bergflanke. Zwischen den Fichtenstämmen tauchen die ersten Nebelschwaden auf. Als ich beim Schweikhof aus dem Wald trete, sind der blaue Himmel und die schneebedeckten Alpen bereits Erinnerung.
Auch der Schweikhof ist Teil meiner Erinnerung. Vor etwas mehr als vier Jahren, im Dezember 2015, bin ich im Restaurant Albishorn, wo ich etwas essen wollte, wegen einer geschlossenen Gesellschaft abgewiesen worden. Zudem hatte Regen eingesetzt. Hungrig und enttäuscht ging ich weiter. In meinem Tagebuch fand ich folgende Passage:
Im Schweikhof lockt mich ein uraltes, verrostetes Wirtshausschild. Als ich ums Haus gehe, lande ich zwischen Stall und Tenn in einer Art Besenbeiz. Auf einem gedeckten Platz stehen Tische und Stühle auf Teppichen – es sieht wie in der guten Stube von anno dazumal aus. Ein Schild lädt dazu ein, im geheizten Gewölbekeller Platz zu nehmen. Auch dort ähnliches Mobiliar, aber keine Menschenseele weit und breit. Schliesslich finde ich in einer Art Küche den Chef. Er duzt mich gleich und sagt, ich solle ins Gewölbe gehen, er komme gleich mit Gulaschsuppe und einem Glas Wein. Später setzt sich der Chef zu mir, wir kommen ins Plaudern. Maurer sei er gewesen, später sei er durch die Welt gereist, und seit drei Jahren betreibe er diese Beiz hier, das reiche ihm bestens zum Leben. Im Januar und Februar fahre er jeweils nach Afrika und arbeite in einem Heim. – Was ich im Leben so getan habe, fragt er schliesslich. „Ein G’studierter“, lacht er, und findet es spannend, dass sich so einer zu ihm verirrt hat. „Ich bin der Heinz“, sagt er beim Abschied.
Heute ist das Gewölbe geschlossen. Vielleicht ist Heinz ja in Afrika. Ohne Gulaschsuppe und Wein gehe ich das letzte steile Wegstück nach Sihlbrugg hinunter. Nun liegt das 18. Jahrhundert endgültig hinter mir. Wie konnte es nur geschehen, dass sich hier, am einst malerischen Übergang vom Sihl- ins Lorzetal, die seelenlose Hässlichkeit industrieller Bauten zu einem Hexensabbat versammelte? – Zum Glück erspart mir der Bus nach Baar weiteres Grübeln.
PS: Während ich zuhause meinen Bericht schreibe, legt sich die Dunkelheit über den Zürichsee. Die Bäume auf der Krete des Albis recken ihre filigranen Äste in den sich rötenden Himmel und sehen aus wie Scherenschnitte. „Was macht die Welt hinter dem Horizont?“, möchte ich ihnen zurufen, aber die Bäume stehen und schweigen. – Was wäre, wenn der Mensch keine Horizonte hätte? Würde er die Unendlichkeit aushalten?