Michael Herr war freier Journalist, als er 1967 Harold Hayes, den befreundeten Chefredaktor des Magazins „Esquire“, überredete, ihn nach Vietnam zu schicken, um über den Krieg im fernen Südostasien zu berichten – mit einem Vorschuss von 500 Dollar. Herr flog nach Saigon, gerade rechtzeitig, um die erbitterte Belagerung von Khe Sanh durch die Nordvietnamesen zu beobachten und die Tet Offensive. Diese zeigte, wie weit die Tentakel des Nordens in den Süden reichten und wie verwundbar Saigon, „das Paradies des Ostens“, bereits war.
Als Korrespondent einer Monatszeitschrift war Michael Herr immun gegenüber dem Druck des Redaktionsschlusses und fand genügend Zeit, um amerikanische Bodentruppen überallhin zu begleiten. Das Einzige, was er brauchte, war ein freier Platz in einem Helikopter und ein solcher war meist zu haben: „In den Monaten nach meiner Rückkehr begannen die Hunderten von Helikoptern, in denen ich geflogen war, zu verschmelzen, bis sie einen kollektiven Meta-Kopter formten, und in meinen Gedanken war der das Geilste, was es gab: Retter-Zerstörer, Versorger-Verschwender, rechte Hand-linke Hand, leichtfüssig, agil, schlau und menschlich“.
Er wollte sehen, hören, riechen, fühlen
Herr war nicht interessiert an den Pressekonferenzen der US-Armeeführung in Saigon. Taktik und Strategie liessen ihn kalt. Er wollte aus erster Hand erfahren, wollte sehen, hören, riechen und fühlen, was die meist jungen „grunts“, die einfachen Soldaten, durchmachten - im Camp, auf Patrouille, im Gefecht, im Dschungel, im Städtekampf. Er setzte sich denselben Gefahren aus wie die Truppen, bei denen er – bevor der Begriff in Mode kam – „embedded“, eingebettet, war. Obwohl die Marineinfanteristen, bekannt für ihre hohen Verluste, nie begriffen, dass einer wie er, ein Journalist, freiwillig in den Krieg zog.
Wie viele Soldaten litt Michael Herr später, zurück in den USA, unter Posttraumatischem Stress-Syndrom (PTSD). Die Krankheit stürzte ihn in eine längere Depression: „Rede davon, eine Identität anzunehmen, in eine Rolle hineinzuwachsen, rede über Ironie: Ich ging hin, um über den Krieg zu berichten und der Krieg berichtete über mich; eine alte Geschichte, es sei denn, du hättest sie noch nie gehört.“.
Meilenstein des New Journalism
Michael Herr schrieb nur wenige Geschichten für „Esquire“ und als Korrespondent eines Männermagazins schon gar nicht, wie ein Soldat vermutete, über Militärmode. Er machte aber, jeweils abends nach der Rückkehr von der Front und gelegentlich im Zelt bei Kerzenlicht, ausführlich Notizen, akribisch, empathisch, getrieben, Alkohol und Drogen in Reichweite.
Es sollte am Ende neun Jahre dauern, bis aus den vielen Notizen „Dispatches“ entstand, jenes Buch, halb Fakt, halb Fiktion, das als Meilenstein des New Journalism gilt und um das ihn Autoren wie Hunter S. Thompson oder Richard Ford beneideten. „Es ist, als ob Dante zur Hölle gefahren wäre mit einer Kassette mit Aufnahmen von Jimmy Hendrix und einem Hosensack voller Pillen: unser erster Rock-and-Roll Krieg, bekiffter Mord“, schrieb ein Kritiker der „New York Times“, als das Buch 1977 erschien.
Im Sog eines fiebrigen Sprachstils
„Dispatches“ mit seinen 260 Seiten ist einer jener Würfe, über die man nicht adäquat schreiben kann. Man kann das Buch nur lesen. Es ist auch ein Werk, das sich mit seinem Slang und seinen Anspielungen auf die Gegenkultur der 1960er Jahre kaum gut übersetzen lässt. Wer das Buch liest, gerät unvermittelt in den Sog eines fiebrigen, heftig pulsierenden, mitunter an Halluzinationen mahnenden Sprachstils, der einen nicht mehr loslässt, ja süchtig macht. „Dispatches“ sei „das beste Buch, das ich über Krieg und Menschen in unserer Zeit gelesen habe“, sagt John le Carré
Michael Herrs Leser, ob er will oder nicht, wird versetzt an jene Orte in Vietnam, wo der Krieg jeweils tobt oder ruht, nimmt oder gibt, tötet oder leben lässt. Die Kämpfe zwischen Amerikanern und Südvietnamesen auf der einen sowie dem Vietcong und Nordvietnamesen auf der andern Seite kennen keine Grenzen und keine Gnade: „Die US-Armee eroberte Gelände rasch zurück, in totaler Panik und mit fast maximaler Brutalität. Unsere Kriegsmaschine war verheerend. Und wendig. Sie konnte alles, ausser aufhören.“
Die Mär der US-Generalität
Ein Kapitel in Michael Herrs „Dispatches“ ist den Kollegen gewidmet, den Korrespondenten aus aller Welt, die damals in Vietnam stationiert waren: „Ich habe nie einen Vertreter des vietnamesischen Pressecorps gekannt, der nicht merkte, was geschah, wenn die Worte „Krieg“ und „Berichterstatter“ aneinander gereiht wurden. Der Glamour dieser Vereinigung war möglicherweise hohl und wahnhaft, aber es gab Zeiten, da war es alles, was du hattest, eine gutartige Infektion, die alles befiel ausser deine schlimmsten Befürchtungen und tiefsten Depressionen.“
Noch heute gibt es, nicht zuletzt innerhalb des Militärs, in Amerika Stimmen, die behaupten, nicht die Truppen, sondern die Medien hätten den Krieg in Vietnam verloren, mit ihrer defätistischen, unpatriotischen Berichterstattung. Dabei berichteten Pressejournalisten wie Michael Herr oder TV-Reporter wie Walter Cronkite lediglich, was sie sahen und was war. Sie erzählten nicht jene Mär, der die US-Generalität in Saigon und die Politiker in Washington DC anhingen, der Mär vom heroischen Einsatz Amerikas für die Demokratien Südostasiens, von der noblen Mission, zu verhindern, dass die Staaten der Region wie Domino-Steine in die Hände der Kommunisten fielen.
Zum sterilen TV-Spektakel verkommen
Kein Wunder, hat das Pentagon seine Lehren aus dem Vietnam-Krieg gezogen und den Medien den Zugang zu Truppen im Krieg erschwert. Konnte sich ein Reporter wie Michael Herr in Vietnam noch frei und nach eigenem Gutdünken bewegen, muss sich ein Berichterstatter heute nach strengen Kriterien „einbetten“ und überwachen lassen – mit dem Ergebnis, dass sich zum Beispiel 2003 die Berichterstattung über Amerikas Invasion im Irak mehr als eine Sportreportage denn wie eine schlichte Dokumentation der Realität anfühlte.
Das Weisse Haus unter George W. Bush verbot den Medien sogar, die Särge gefallener Soldaten bei der Ankunft auf der Dover Air Force Base in Delaware zu fotografieren oder zu filmen. Der Krieg, den Michael Herr in „Dispatches“ furchtloslos, ungefiltert und roh schilderte, ist in Amerika zum sterilen TV-Spektakel verkommen, das weniger aufklärt als vielmehr Einschaltquoten garantiert. Von Blut, Schweiss und Tränen sind allein noch, da leichter zu vermarkten, die Tränen übrig geblieben.
Seiner Kreativität beraubt
Michal Herr war in den Dreissigern, als er „Dispatches“ verfasste. Danach hat er nicht mehr viel geschrieben. Er arbeitete an den Drehbüchern für Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“ (1979) und Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“ (1987), beides Vietnam-Epen, mit und schrieb über Kubrick, mit dem er eng befreundet war, und den gefürcheteten New Yorker Klatschkolumnisten Walter Winchell.
Herr lebte für einige Jahre zurückgezogen in England, um seinem ungewollten Ruhm zu entfliehen und wies standhaft Offerten von Verlegern zurück, wieder über Krieg zu schreiben. Auch Interviews zu „Dispatches“ gab er keine mehr, aus Respekt für die Soldaten, über die er einst berichtet hatte. Seiner Tochter zufolge wandte er sich in den letzten Jahren dem Buddhismus zu und schrieb nicht mehr. Fast schien es, als hätte ihn das eine grossartige Buch ausgezehrt und seiner Kreativität beraubt.
"Vietnam, wir sind alle dort gewesen"
„Der Krieg endete, und dann endete er wirklich, die Städte ‚fielen‘, ich schaute zu, wie die Helikopter, die ich so geliebt hatte, (von den Flugzeugträgern) ins Südchinesische Meer kippten, während ihre südvietnamesischen Piloten noch rechtzeitig absprangen, und ein letzter Helikopter heulte auf, hob ab und flog aus meiner Brust“, schreibt Michel Herr am Ende des Buches: „Ich wusste, dass irgendwo in jener Nacht und jede Nacht Menschen dort drüben (in Vietnam) zusammensitzen und über die schlechten alten Tage des Jubels reden würden und dass sich dann einer von ihnen erinnern und sagen würde, ja, was soll’s, es waren auch einige Nette darunter. Und mir bleibt gar nichts mehr übrig, als einige letzte Worte niederzuschreiben und festzuhalten, Vietnam, Vietnam, Vietnam, wir sind alle dort gewesen.“