Mit der Philosophie verbindet man primär eine sitzende Tätigkeit, aber das trifft schon auf die Antike nicht zu. Aristoteles lehrte in seiner berühmten „Wandelhalle“. Sokrates ging unter die Leute, zum Beispiel auf Märkte, um sich mit ihnen zu unterhalten und daraus seine philosophische Lehre zu entwickeln. Andere Denker, besonders mystisch veranlagte, gingen in die Natur und suchten dort Erkenntnis und Erleuchtung.
Gegenbild zur Gesellschaft
Diese Natur wurde in der Neuzeit mehr und mehr zum Gegenbild der als dekadent bewerteten „Gesellschaft“. Das ging schon in der Renaissance mit der Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca los und fand einen ersten Höhepunkt bei Jean-Jacques Rousseau. Und von Nietzsche stammt das berühmte Diktum, dass man keinem Gedanken trauen solle, der nicht im Freien gedacht ist.
Zu dem Sonderheft "Wandern" gehören zahlreiche persönliche Notizen. So schildert Simone de Beauvoir ihre Begeisterung, mit der sie als junge Frau meistens ganz allein ausgiebige Wanderungen an der Côte d’Azur unternommen hat. Da entsteht ein etwas anderes Bild der Philosophin, die sich primär als streitbare Feministin in das öffentliche Gedächtnis eingeschrieben hat. Daneben finden sich schöne Notizen anderer Autoren wie Walter Benjamin, George Sand oder, vielleicht als Kuriosum, Adolph Freiherr von Knigge.
Begegnungen mit alten Bekannten
Das Heft „Wandern“ ist die 50. Ausgabe des Philosophie Magazins. Zuerst erschien es im November 2011. Seit seinem Bestehen hat dieses Magazin Höhen und Tiefen durchgemacht. Es ist sehr schwierig, alle zwei Monate interessante Themen aus einem Fachgebiet zu sammeln, das über weite Strecken durch akademische Diskurse geprägt ist. Aber immer wieder gelingen der Redaktion überzeugende Ausgaben. Diese gehört dazu. Ansprechend sind schon die zahlreichen Textauszüge von mehr oder weniger bekannten Philosophen. Der Laie staunt, und der Kenner freut sich über die Wiederbegegnung mit alten Bekannten. Das ist anregend und unterhaltsam.
Aber dabei bleibt es nicht. Es gibt mehrere längere Beiträge, die zumeist in der Interviewform gehalten sind. In ihnen wird einmal im Gespräch mit dem Stammzell- und Hirnforscher Gerd Kempermann die Frage untersucht, welche Auswirkungen das Gehen und Wandern auf das Gehirn hat. Er erklärt, dass unser Gehirn als physisches Organ geradezu darauf angewiesen ist, dass wir uns bewegen.
Der Wald
Dann gibt es ein recht interessantes Gespräch mit der bekannten Autorin Thea Dorn. Unter anderem geht es dabei um die Frage, warum die Deutschen eine unter anderen Völkern so nicht bekannte Vorliebe für den Wald haben. Er ist weit mehr als Natur, er ist ein Seelenzustand.
Dieser Seelenzustand hat positive, aber auch sehr negative Auswirkungen. Die Sensibilität für Belange des Umweltschutzes ist positiv, aber wenn man an Martin Heidegger und dessen Vorliebe für den Wald denkt, dann sieht man, wie schnell die Schwärmerei für das vermeintlich Urtümliche in fatale Ideologie unschlagen kann. Sehr scharfsinnig macht Thea Dorn darauf aufmerksam, dass derartige Tendenzen schon in der Wandervogelbewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen mit anderen lebensreformerischen Bestrebungen ihren Ausgang nahm, angelegt waren.
Rasende Enge
Schöne Provokationen enthält der Essay des französischen Philosophen und Romanautors Pascal Bruckner. Er macht sich darüber lustig, dass sich unsere moderne Art der Fortbewegung meistens im Sitzen und auf engstem Raum vollzieht: Auto, Flugzeug, Bahn. Wir rasen zwar dahin, aber wir selbst bewegen uns dabei nicht, sitzen buchstäblich fest. Das Gegenteil davon ist das Wandern, das uns Erfahrungen öffnet, die uns als Eingeschlossenen in High-Tech-Röhren nicht zugänglich sind.
Ein Kapitel widmet sich den „Märschen zur Macht“. Auch hier werden die gegensätzlichen Zwecke und Tendenzen nicht verschwiegen. So findet man neben zum Beispiel Mahatma Gandhi und Martin Luther King Gestalten wie Benito Mussolini und Mao Zedong.
Philosophie Magazin, Wandern. Die Wege der Gedanken, Sonderausgabe 10, Juni 2018