Die eigene Sprache sei vielen fremd geworden, klagen Lehrmeister und Universitätslehrer. Sie meinen damit die Sprache unter inhaltlichen und auch formalen Aspekten: Lesen und Sinnverstehen anspruchsvoller Texte würden zu Schwerstarbeit, differenziertes Versprachlichen und richtiges Schreiben zur einer subjektiven Zumutung. Von Grammatik, Orthografie und Interpunktion ganz zu schweigen; sie stiessen auf immense Akzeptanzprobleme. Darüber beschweren sich selbst deutsche Hochschulprofessoren. Ein Grossteil der Studenten beherrsche die Grammatikregeln nur rudimentär, belegt eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung. [1] Auch der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern, Peter V. Kunz, stellt in diesem Bereich einen „dramatischen Kompetenzverlust“ fest. [2]
Resignativer Konformismus löst keine Probleme
Das sei halt der Trend der Zeit, meinen manche achselzuckend, und dieses kulturpessimistische Ostinato habe es schon immer gegeben – seit Sokrates, so fügen sie salopp bei und betonen: Anderes sei wichtiger geworden und fürs Leben bedeutsamer, die Situation zu dramatisieren darum falsch. Viele nehmen das hin – auch Lehrerinnen und Lehrer, sogar auf dem Gymnasium. Ein resignativer Konformismus macht sich breit. Gar von Kapitulation ist die Rede. Kurz: „Es ist, wie es ist.“
Doch „Resignatio“ sei keine schöne Gegend, meinte schon Gottfried Keller, der scharfe politische Denker und kauzig-kluge Dichter. Das desinteressierte Wegschauen verkennt eines: Eine träfe Textproduktion wie die analytische Textrezeption verlangen die sichere Kenntnis formaler Regeln und ein gut entwickeltes Sprachbewusstsein. Sie bilden die Basis und kommen nicht von allein. Erstsprachliche Kompetenzen sind so wichtig wie mathematische; auch sie müssen systematisch aufgebaut und intensiv geübt sein. Daran führt kein Weg vorbei.
Die Sprache – das bin ich!
Selbst junge Leute wünschen sich eine bessere Sprach-“beherrschung“. Viele Studierende plädieren darum für mehr Grammatik und Orthografie, auch in den oberen Klassen des Gymnasiums. Das erstaunt – und ist leicht zu erklären: Sie fühlen sich im schriftlichen Ausdruck und in der präzisen Textkohärenz nicht sicher genug und erkennen ihre sprachlichen Defizite am ehesten an den Kriterien des formal (In-)Korrekten. [3]
Die jungen Menschen solide in der Erstsprache auszubilden, gehört zum Grundauftrag der Volksschule. Dass Schulpolitik und Schulpädagogik dies nicht schaffen, weiss man seit den ersten PISA-Ergebnissen. Doch die Schweizer Bildungsdirektoren scheinen nur ein Thema zu kennen: frühe Fremdsprachen. Wie es um das korrekte (Früh-)Deutsch steht, kümmert sie kaum. Im Gegenteil: Die Realität wird semantisch geschönt. 15 bis 20 Prozent der Schüler verlassen die Schule nach neun Jahren als Analphabeten. Von ihnen redet niemand.
Üben als A und O des Lernens
Zu viele Inhalte in zu kurzer Zeit mit zu heterogenen Klassen. Das ist der Tenor vieler Lehrpersonen. Die Sequenzen des Übens werden darum kürzer oder gar gestrichen. Nicht selten wird Üben auch als Drill verstanden, Drill mit Zucht gleichgesetzt und darum weggelassen. Man weicht lieber in kreativere Gefilde aus. Darunter leiden trainingsintensive Fächer wie Deutsch oder Rechnen.
Konsolidieren und Üben, Wiederholen und Anwenden – das sind Primitivregeln des Lehrens und Lernens, wie der Hirnforscher Gerhard Roth immer und immer wieder betont. [4] Ein bis zwei Aufsätze pro Schuljahr – wenn überhaupt – genügten nicht. Den sprachlichen Stil verbessern heisst: den Gedanken verbessern. Das geht nur übers Schreiben. Permanent und konsequent. Und über die regelmässige und korrekte Korrektur durch die Lehrperson. Ihr konstruktives Feedback minimiert die formale und stilistische Diskrepanz zwischen Sein und Sollen. Kurze, klare und konkrete Rückkoppelungen erzielen gemäss der grossen Hattie-Studie einen der höchsten Effektwerte.
Schreiben als Denkarbeit
Der selbstorientierte Unterricht führt hier nicht weiter. Es braucht das animierende Gegenüber des Lehrers, das Dialogische einer vital präsenten Lehrerin, die mir Rückmeldung gibt und mich sprachlich anregt. Durch die Sprache tritt unser Denken mit der Umwelt in Verbindung. Sie ist ein Katalysator dieses Denkens selbst. Die Grenzen meiner Sprache bedeuten eben die Grenzen meiner Welt, sagt ein weithin bekanntes Wort des Philosophen Ludwig Wittgenstein.
Mut zum Gegenläufigen
Schule muss diese sprachlichen Grenzen verschieben, muss die Schülerinnen und Schüler aus ihrer Eigenwelt hinausführen und ihnen Zugänge zu erweiterten, auch formal korrekten Sprachwelten einsichtig aufzeigen – und sie darin „beüben“. Pädagogik hat eben immer auch die Pflicht zur unzeitgemässen Gegenläufigkeit.
Das Zeitgemässe ist das Schnelle, das Oberflächliche, das Flüchtige. Das gilt ganz besonders für die Welt der Wörter. Am Smartphone muss es geschwind gehen. „20 Minuten“ dauert in der Tendenz die heutige Lesedauer. Fast-Food-Information, in kleinen Häppchen präsentiert und schnell konsumiert. Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nichtalltäglichen Sprache und des Diskurses ist für manche Schüler eine unvertraute Gegend. Formale Sprache und inhaltliche Diskursivität werden daher als ungewohnt erlebt und als „Fremdheit“ wahrgenommen. Für die Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dieses Unbehagen einen spürbaren Zuwachs an Aufwand und Engagement.
Lax Geschriebenes ist schlecht Gedachtes
Zwar haben wir heute gute Hilfsmittel und automatische Korrekturen. Das erleichtert manches. Doch am Schreiben hat sich seit Homers Zeiten nichts geändert. Es gibt keine Abkürzungen. Noch immer schreibt man Wort für Wort, Satz für Satz – inhaltlich konzis, formal präzis. Dabei gilt Friedrich Dürrenmatts Leitmotiv: „Die Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken.“ Lax Geschriebenes ist schlecht Gedachtes. Was Dürrenmatt so prägnant formulierte, ist Auftrag und Inhalt für jede Lehrperson – auf allen Stufen. Das ist aktuell nicht immer leicht, aber sie bleiben als Aufgabe.
Nur so lernen junge Menschen, ihre Gedanken beim Wort zu nehmen und ihnen eine sprachlich korrekte Form zu geben.
[1] Gerhard Wolf (2016), Bremsversagen oder: Mit dem Abitur in die Schreibberatung – Ursachen und Folgen einer nachlassenden Studierfähigkeit heutiger Jugendlicher, in: Ausbildungsreife & Studierfähigkeit. Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, S. 10ff.
[2] Vgl. Robin Schwarzenbach, Orthographie zum Vergessen, in: NZZ 5. Mai 2017. S. 50
[3] Franz Eberle, Christel Brüggenbrock, Christian Rüede, Christoph Weber, Urs Albrecht (2015), Basale fachlichen Kompetenzen für allgemeine Studierfähigkeit in Mathematik und Erstsprache. Schlussbericht zuhanden der EDK, in: http://www.ife.uzh.ch/research/lehrstuhleberle/forschung/bfkfas/downloads/Schlussbericht_final_V7.pdf, S. 149
[4] Gerhard Roth (2011), Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 306f.