Kaum hat das warme Wetter der letzten Tage die dünne Eisschicht auf dem kleinen Teich in der Mulde zwischen Hinter und Vorder Guldenen zum Verschwinden gebracht, haben dort über Nacht sieben Enten Quartier genommen. Am Himmel kreisen zwei Rotmilane; sie tauschen beim Jagen mittels ihres unverkennbaren Rufes geheime Nachrichten aus.
Tatsächlich, ein Morgenspaziergang am Pfannenstiel befreit die Seele – zumindest meistens. Aber heute trottet ein düsterer Geselle neben mir her. Trotz Entengequake und Vogelgesang gelingt es mir nicht, den Schatten abzuschütteln. Im Gegenteil, je stärker ich ihn zu ignorieren versuche, desto zudringlicher wird er. Jetzt flüstert er mir gar etwas ins Ohr, das mich an eine Aussage erinnert, die ich vor kurzem – in «meinem» Journal21 notabene – gelesen habe. Es tönt so:
«Ich habe niemanden zwingen wollen, seinen Maulkorb herunterzunehmen. Wer sich vor einem Virus schützen will, das er für gefährlich hält, der soll sich schützen. (...) So wie jede, die Alkohol für gefährlich hält, frei ist in dem Entschluss, keinen Blauburgunder und kein Weizenbier zu trinken. Ich habe niemanden zu etwas zwingen wollen.»
Der Verfasser (H. S.) nannte seinen Text «Ein wütender Kommentar», aber ich weigere mich, ihn deswegen als entsprechenden »citoyen» zu betiteln, genauso wie ich mich zu weigern versuche, auf diesen Text überhaupt zu reagieren. Es ist ja nicht meine Meinung, sage ich mir, was soll mich daran überhaupt stören.
«Feigling!», ruft mein düsterer Kumpan, das kannst du doch nicht so stehen lassen! Und überhaupt, vielleicht wünscht sich ja der Wütende seine Wut erwidert zu sehen. Heisst es nicht, Ignorieren sei schlimmer als Reagieren?»
«Was soll ich denn noch antworten», frage ich zurück, «mein Kollege U. M. hat doch schon alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt.»
«Zier dich nicht so, ich sehe es dir doch an, wie es in deinem Kopf brodelt und stürmt. Schlag ihm doch wenigstens seine Analogie mit dem gefährlichen Alkohol um die Ohren!»
«Ach, diesen schiefen Vergleich meinst du, das ist doch nicht der Rede wert, das merkt doch jedes Kind, dass hier etwas nicht stimmt. Als ob man sich, wie beim Alkohol, so einfach entscheiden könnte, Covid zu konsumieren oder eben darauf zu verzichten. Wenn der zornige Rufer doch wenigstens das Rauchen zum Vergleich beigezogen hätte: Ansteckung durch Covid als eine Art Passivrauchen. Nur dumm, dass dort die Sache punkto «Freiheitsentzug« viel rigoroser ist als bei Covid: Auch ohne besondere Lage ist seit Jahren das Rauchen vielerorts im öffentlichen Raum verboten, und die Gesellschaft scheint sich daran gewöhnt zu haben. Bei Covid ginge es wenigstens nur um eine vorübergehende Massnahme. Wieso also diese Wut?»
«Hab ich dich doch noch an die Angel gekriegt», unterbricht mich mein finsterer Schatten, «gib’s doch zu, auch du bist wütend, nicht nur dein Schreiber-Kollege, also heraus mit der Sprache, sonst bekommst du ein Magengeschwür.»
Bin ich wirklich wütend, frage ich mich beim Weitergehen? – Ich denke nein. Dass der Autor die Gefahren von Covid-19 anders einschätzt als ich, ist sein gutes Recht. Solche Meinungsdifferenzen gibt es überall, wo Menschen zusammenleben. Der entscheidende Punkt ist ein anderer: Wie gehen wir als Gemeinschaft mit diesen Differenzen um?
Als ob mein hartnäckiger Begleiter meine Gedanken lesen könnte, höre ich ihn rufen: «Richtig, das sagt er ja auch, dein Kollege: ‚Demokratie beruht auf geordnetem Umgang mit Dissidenz.’ – Wer könnte dagegen etwas einzuwenden haben?»
«Natürlich niemand! Fragt sich nur, was der Autor unter einem ‚geordneten Umgang’ versteht», antworte ich meinem Schatten. «Wenn man seine oben zitierte Aussage als Anleitung für einen solchen geordneten Umgang verstehen müsste, dann wäre ich nicht wütend, nein, dann wäre ich traurig und irritiert, um nicht zu sagen peinlich berührt, weil ... Aber lassen wir das!»
«Nein, lassen wir es nicht», stichelt mein dunkler Begleiter, «was soll daran denn peinlich sein und für wen? Er sagt es doch klipp und klar: Wenn jemand zu einer Sache eine andere Meinung hat und daher nicht einverstanden ist mit den Massnahmen, welche die Obrigkeit – mit der Unterstützung der Mehrheit des Volkes – beschliesst, dann soll man doch bitte die Minderheit in Ruhe lassen und es ihnen zugestehen, sich nicht an diese Massnahmen zu halten. Also Maske ab!»
«Richtig, Maske ab, nennt man das nicht Demaskierung? Traurig macht mich, was darunter zum Vorschein kommt, ein Gesicht, das nur sich selber sieht, und für das es keine Mitmenschen gibt, die vom Handeln anderer betroffen sein könnten. Des einen Freiheit ist des andern Not – manchmal auch Tod, man denke an den Strassenverkehr. Der Zorn scheint offenbar jemanden davon abzuhalten, sein Argument zu Ende zu denken. – Also ciao, finsterer Kerl, lass mich nun bitte in Ruhe.»
Später erinnere ich mich an den Artikel «Szenen einer Krise» von Simon Schmid, der kürzlich in der «Republik» erschienen ist. Unter anderem hätten wir durch die Krise Folgendes gelernt:
«Freiheit ist nicht absolut: Manchmal braucht es die Unterordnung unter das Kollektiv, um das Wohl der Individuen zu maximieren.»
Recht hat er, nur war tatsächlich eine Krise nötig, um an eine Binsenwahrheit zu erinnern?
Auf dem Heimweg, kurz nach der Einfahrt von der Forch, glotzt mich hämisch die rot umrandete Fratze einer 80iger Tafel an. Ich drücke das Gaspedal runter. «Sollen sich doch diejenigen daran halten, welche Angst haben vor höherer Geschwindigkeit, ich jedenfalls habe nichts dagegen, wenn sie mit 80 durch die Landschaft schleichen, aber bitte, lasst mich in Ruhe mit dieser Schikane. Auch das rote Lichtsignal bei Zumikon soll mich nicht kümmern; zwischen dem dahinschleichenden Querverkehr finde ich allemal eine Lücke. Ach ja, ich habe gehört, es gäbe diese Angsthasen, welche sich beim Autofahren anschnallen ...»