Unmittelbar hinter der Schweizer Grenze findet sich im vorarlbergischen Hohenems eine Ausstellung, die, obwohl gar nicht aktuell geplant, nicht besser in unsere Zeit passen könnte: Im Jüdischen Museum begleitet die Fotografin Iris Hassid vier junge Palästinenserinnen mit israelischem Pass durch einen schwierigen Lebensalltag in Tel Aviv.
Bis zum 18.September ist Anika Reichwald in Israel gewesen; dort hat sie in Tel Aviv in der Wohnung der Fotografin Iris Hassid auch Samar getroffen – eine von vier jungen Palästinenserinnen, von denen die von ihr betreute aktuelle Ausstellung im Jüdischen Museum Hohenems handelt. «Einer meiner ersten Gedanken galt am 7.Oktober deshalb Iris Hassid und den vier Frauen», sagt Anika Reichwald heute. «Sie sind alle unversehrt und suchen sich nun zurechtzufinden.»
Plötzlich verdächtig geworden
Der Terrorangriff der Hamas und der Krieg in Gaza trifft nicht nur die Juden in Israel, sondern auch jene mehr als zwanzig Prozent Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit palästinensischen Wurzeln. Einige sind bei den Anschlägen selber zu Opfern geworden. Eine muslimische Beduinenfamilie befindet sich unter den Geiseln. Etliche Beduinen und palästinensische Erntearbeiter haben junge Teilnehmer eines Festivals nahe der Grenze zum Gaza-Streifen mit ihren Autos in Sicherheit gebracht. Und für viele gilt wohl, was die palästinensische Journalistin Hanin Majadli in der «Zeit» geschrieben hat: «Seit Tagen kann ich nichts tun – nicht atmen, nicht einmal die einfachsten Besorgungen machen. Ich versuche, das Haus nicht zu verlassen, nicht auf Arabisch zu sprechen, nichts zu sagen, was meine eigene Sicherheit gefährden könnte.»
Hanin Majadli ist Palästinenserin und Bürgerin von Israel. «Das heisst, einerseits bin ich Teil des palästinensischen Volkes und identifiziere mich mit seinem Wunsch, von der israelischen Besatzung befreit zu werden. Andererseits lebe ich wie die meisten arabischen Bürger in Israel hier von Kindheit an, und es gab immer jüdische Freunde bei uns in der Familie.» Jetzt, nach dem Massaker der Hamas, bedeute eine Araberin in Israel zu sein, «eine Verbündete der Feinde und in diesen Tagen so verdächtig wie der Feind selbst zu sein.»
Die Juden, für einmal in der Mehrheit
Dass sie «zwischen den Stühlen» sitzt, wie Hanin Majadli schreibt, das ist auch den vier jungen Palästinenserinnen nicht fremd, die Iris Hassid seit 2014 über sechs Jahre hinweg begleitet und immer wieder fotografiert hat. Die Früchte dieser Erkundungsfahrt in ein auch für sie fremdes Gelände legt Hassid in den Bildern, Filmen und Texten der Ausstellung «A Place of Our Own» vor, die zuerst im Jüdischen Museum Amsterdam gezeigt und jetzt von Hohenems übernommen worden ist. Warum man das gemacht hat, erklärt Anika Reichwald so: «Es geht dabei um jene Beziehung zwischen einer Mehrheit und einer Minderheit, die den Juden sehr bekannt ist. Normalerweise befinden sie sich in der Minderheit, hier sind sie die Mehrheit.»
Als erste hat Iris Hassid Samar kennen gelernt, die damals gerade an der Universität Tel Aviv ihren Abschluss in Film und Fernsehen gemacht hatte. Samar stellte ihr ihre Cousine Saja, eine Psychologiestudentin, vor und machte sie mit deren Mitbewohnerin Majdoleen, einer Architekturstudentin, sowie einer Kommilitonin Aya, einer Soziologiestudentin, bekannt. Über diese vier jungen Frauen tauchte sie dann in einen Kosmos ein, der auch vielen jüdischen Israelis sehr fremd ist. Und umgekehrt: Bevor sie nach Tel Aviv zog, hat Samar kaum Israelis getroffen, der Umzug fühlte sich für sie deshalb «seltsam und fremd an». Sie und Saja stammen aus der Stadt Nazareth, Majdoleen und Aya kommen aus zwei Dörfern – alles Ortschaften mit fast ausschliesslich palästinensischer Bevölkerung.
«Niemand versucht, uns zu verstehen»
Besonders willkommen fühlten sich die vier in Tel Aviv nicht, das hat Samar auch bei der Wohnungssuche bemerkt. «Wenn ich eine Wohnung besichtige und die Eigentümer sehen, dass ich Araberin bin, sagen sie mir später meist am Telefon, dass die Wohnung schon vermietet ist», erzählt sie. Aya wiederum erregt viel Aufmerksamkeit mit ihrem Hijab und spürt insbesondere in Jerusalem eine sehr aufgeladene Atmosphäre. «Ich begreife nicht, warum es so seltsam für sie ist, arabische Frauen in der Stadt zu sehen», sagt sie. «Niemand versucht, uns zu verstehen oder auch nur kennenzulernen.»
An der Bereitschaft der jungen Palästinenserinnen liegt es nicht. «Ich möchte dazugehören und auch etwas Neues aufbauen», sagt Majdoleen. Aber: «Als ‘arabische Frau’ definiert zu werden, kann ich mittlerweile nicht mehr ertragen – ich möchte eine Person ohne jedes Etikett sein.» Doch etikettiert werden sie, und jede reagiert darauf in der ihr eigenen Weise. Saja kehrt 2018 nach Nazareth zurück, wo sie sich mehr zu Hause fühlt. Samar ist eine bekannte Film- und Fernsehschauspielerin geworden, aber beim Vorsprechen wird sie von Palästinensern oft als zu israelisch und von Israelis als zu palästinensisch angesehen. Kraft gibt ihr die Familie. «Das Haus meiner Oma ist das Fundament der ganzen Familie», sagt sie. Ihre Grossmutter habe ihre zehn Kinder in so jungen Jahren und unter sehr schwierigen, existenziellen politischen Umständen und in unvorstellbarer Armut grossgezogen; dabei sei es ihr «gelungen, eine ganz wunderbare Familie mit vielen Werten und viel Kultur heranzuziehen».
Aya arbeitet als Jugendbewährungshelferin in Ostjerusalem; sie hat vor kurzem aufgehört, den Hijab zu tragen – weil er nicht mehr zu ihr passt. Und Majdoleen schliesslich ist weggezogen, nach Mailand. Im – in der Ausstellung gezeigten – Schriftwechsel mit Iris Hassid kommt eine tiefe Enttäuschung über Israel zum Ausdruck, das in den letzten Jahren begonnen hat, immer stärker seinen jüdischen Charakter zu betonen. Zwar haben seit dem Januar 2023 hunderttausende Israelis für Demokratie und Menschenrechte demonstriert, doch blieben dabei gemeinsame Proteste von jüdischen und palästinensischen Israelis für Gleichberechtigung eine Ausnahme.
Ihre zwei Welten, sie bleiben bisher noch getrennt.
Jüdisches Museum Hohenems: A Place of Our Own. Vier junge Palästinenserinnen in Tel Aviv. Von Iris Hassid. Bis 10. März 2024