Mitten im Weihnachtsfest steht eine Geburt. Die patriarchale Sicht macht das Gebären zum «heiligen» Geschehen ausserhalb der männerdominierten feindlichen Welt. – Ein feministischer Einspruch gegen die weihnachtlich verklärte Sonderbehandlung eines ausgegrenzten weiblichen Bereichs.
Einmal hatte ich Streit mit einem Mann. Das war seltsam, denn dieser Mann schien auf den ersten Blick ganz meiner Meinung zu sein: Er kritisiert, wie ich, Patriarchat und Kapitalismus. Er findet den Kampf der Frauen um Selbstbestimmung richtig und wichtig. Er setzt sich, wie ich, langfristig für das bedingungslose Grundeinkommen ein. Trotzdem gerieten wir aneinander. Warum?
Der Mann reagierte aufgebracht, weil ich im Zusammenhang mit den traditionellen Care-Tätigkeiten der Frauen – inklusive Schwangerschaft, Gebären und Nähren – versuchsweise von «Produktion» gesprochen hatte. Also nicht gehorsam und wie in linken Kreisen üblich von «Reproduktion». Der Mann fand, Schwangerschaft, Gebären und Nähren als «Produktion» zu bezeichnen, sei unzulässig. Denn das Werden eines Ichs im Mutterleib sei ein staunenswertes Wunder. Es mit dem ökonomischen Begriff der «Produktion» zu belegen, verletze die Heiligkeit des Lebens.
Die Auseinandersetzung ist beispielhaft für ein Missverständnis, das sich immer wieder ereignet, wenn Leute, die versuchen, sprachtätig die patriarchale Ordnung zu verlassen, auf Menschen treffen, die das nicht tun. Deshalb möchte ich genauer hinschauen: Worin besteht das Missverständnis? Lässt es sich zukunftsweisend auflösen?
Patriarchale Zwei-Reiche-Lehre
Es ist nachvollziehbar und keineswegs verkehrt, im Angesicht eines neugeborenen Menschen von einem «staunenswerten Wunder» zu sprechen. Auch ich bin immer wieder metaphysisch berührt, wenn ich einen menschlichen Neuankömmling sehe. Die Fähigkeit zum Staunen ist notwendig und muss kultiviert werden, wenn wir als Menschheit eine lebenswerte Zukunft im verletzlichen Lebensraum Erde wollen.
Die Fähigkeit zum Staunen ist notwendig und muss kultiviert werden, wenn wir als Menschheit eine lebenswerte Zukunft im verletzlichen Lebensraum Erde wollen.
Das Staunen meines Gesprächspartners ist also als solches erfreulich. Der Fehler liegt dort, wo der Mann, wie das Patriarchat seit Jahrhunderten, «Wunder» und «Heiligkeit» zur Frauen- und Kindersache erklärt. Für ihn bedeutet «Produktion» schnödes Männerhandwerk: Fliessband, Maloche, Effizienz, Lohnkämpfe. Erst wenn der Mann heimkommt in seine Familie, begegnet er dort dem Wunder des Lebens. Dieses private Mysterium, so ist er überzeugt, darf nicht mit einem Begriff in Berührung kommen, der aus der feindlichen Aussenwelt stammt: Produktion.
Das ist patriarchale Zwei-Reiche-Lehre: Der Mann meint, Mutter und Kind (und am Feierabend auch sich selbst) vor dem kalten Leben draussen schützen zu können, indem er beide aus der Welt der Bosse, Arbeiter und Krieger ausschliesst. Dabei vergisst er zwei Dinge: erstens, dass die vermeintlich heiligen Mütter in diese Aussenwelt längst eingeschlossen sind, zum Beispiel als Kanonenfutterproduzentinnen, also nicht erst, seit es die modernen Reproduktionstechniken gibt. Und zweitens, dass Schwangerschaft, Gebären und Nähren Arbeit sind, oft Schwerarbeit. Und zwar systemrelevante Arbeit, ohne die das eifrige Herstellen da draussen seinen Sinn verliert.
Nach den Berechnungen des schweizerischen Bundesamts für Statistik handelt es sich bei der unbezahlten Sorgearbeit in Privathaushalten um den mit Abstand grössten Wirtschaftssektor.
Nach den Berechnungen des schweizerischen Bundesamts für Statistik handelt es sich bei der unbezahlten Sorgearbeit in Privathaushalten um den mit Abstand grössten Wirtschaftssektor.1 Der Begriff «Familie» übrigens, der meist den sentimentalisierten Innenraum bezeichnet, leitet sich vom lateinischen famulus ab. Famulus heisst Diener.
Ich erinnerte meinen Gesprächspartner an Barbara Dürer-Holper. Sie hat zwischen 1467 und 1492 achtzehn Kinder geboren. Drei davon wurden erwachsen, darunter der Maler Albrecht Dürer, der später durch die Produktion und Reproduktion unzähliger populärer Bilder, deren Vermarktung seine kinderlose Ehefrau Agnes Frey übernahm, der Sippe zu Wohlstand verhalf. – Aber davon wollte der Mann nichts hören.
Reproduktion im Dienst der Produktion
Warum also soll ich das Gebären, Nähren und Begleiten neuer Menschen nicht «Produktion», sondern «Reproduktion» nennen – und gleichzeitig «heilig»? Warum geht dieses Gebot, den Begriff der Produktivität für bestimmte bezahlte Hand- und Kopfarbeiten zu reservieren, zuweilen so weit, dass Ökonomen von «Humankapitalverlust» sprechen, wenn sie Frauen bezeichnen, die sich im sogenannten «Mutterschaftsurlaub» befinden?2
Re-Produktion bezeichnet per Definition etwas Nachgeordnetes, hier einen als zweitrangig empfundenen Dienst an dem, was scheinbar unbestreitbar die Mitte bildet: die Fabrikation von Dingen. Tatsächlich aber kommen durch Gebären und Nähren noch nie dagewesene, überraschende neue Menschen voller ungeahnter Entfaltungsmöglichkeiten in die Welt, während «Produktion» im Kapitalismus bloss bedeutet, dass möglichst wenige Arbeitskräfte für möglichst wenig Lohn in möglichst kurzer Zeit möglichst viele identische Gegenstände herstellen, die dann möglichst gewinnbringend verkauft werden, obwohl womöglich niemand diese Produkte braucht. Warum also soll ich die im strengen Sinne kreativen Tätigkeiten, die alles andere erst möglich und erforderlich machen, «reproduktiv» oder sogar «unproduktiv» nennen? Und gleichzeitig «heilig»?
Konfusion der Begriffe
Ein wesentlicher Grund für die seltsame Begriffsverwirrung ist, dass Denker vor Jahrhunderten eine Ideologie erfunden haben, die eine Grenze zwischen einem höheren geistigen «männlichen» und einem niederen körperlichen «weiblichen» Prinzip zieht und diesen beiden Prinzipien bestimmte Sphären und Tätigkeiten zuordnet. So schreibt beispielsweise Aristoteles: «Da nun die erste Quelle der Bewegung in ihrem Wesen immer höher steht und göttlicher ist [...] und da es sich empfiehlt, das Höhere von dem Geringeren zu trennen, deswegen ist überall, wo und wieweit es möglich ist, vom Weiblichen das Männliche getrennt. Denn ranghöher und göttlicher ist der Bewegungsursprung, der als männlich in allem Werdenden liegt, während der Stoff das Weibliche ist.»3
Und: «Die Hausverwaltung ist eine Monarchie – denn jedes Haus wird von einem Einzigen regiert –, die Staatsverwaltung ist dagegen eine Herrschaft über Freie und Gleichgestellte. [...] Die Wissenschaft des Herrn ist aber diejenige, die die Sklaven zu verwenden weiss [...], und die Herren betreiben Politik und Philosophie.»4
Diese uralte «Trennungsstruktur»5 wirkt bis in die Gegenwart, schon dadurch, dass die meisten Fremdwörter, mit denen man täglich umgeht, griechischen oder lateinischen Ursprungs sind. Zwar ist die Herkunft von Begriffen wie Ökonomie, Politik, Materie, Natur oder Produktion oft nicht bewusst. Trotzdem transportieren solche Begriffe hierarchisierende Trennungen, etwa die zwischen der Polis (Stadtstaat) als dem Spielfeld freier Bürger auf der einen und der abhängigen Sphäre des Oikos (Haushalt) auf der anderen Seite. Die moderne Idee zum Beispiel, dass Frauen natürlicherweise ins Haus und zu den Kindern gehören, konnte ans Konstrukt eines «geringeren» Weiblichen anknüpfen, das im monarchisch regierten Oikos wirkt.
Die moderne Idee, dass Frauen natürlicherweise ins Haus und zu den Kindern gehören, konnte ans Konstrukt eines «geringeren» Weiblichen anknüpfen.
Und noch heute versteht man unter «Materie» meist etwas Stummes, Passives, das Menschen benutzen, um «höhere» Ziele zu erreichen. Wenigen ist bewusst, dass sie mit dem Lob sogenannt «immaterieller» Güter die Mütter herabsetzen: Denn der Begriff Materie leitet sich vom griechischen Wort Meter ab. Meter heisst Mutter. Materie hat man in der griechischen Antike konzipiert als den passiven Stoff, aus dem sich der agile männliche Geist nährt und auf dem er sich entfaltet: als Held, Priester, König, Feldherr, Gott, Erfinder, Künstler, Prophet, Professor, Theoretiker, als Produzent grosser Dinge und Taten.
Auch die Empörung meines Gesprächspartners über die Idee, Gebären «Produzieren» zu nennen, knüpft an die «Trennungsstruktur» an: Die Geburt soll weiterhin zur Sphäre der trägen Materie gehören, die das Produzieren nährt, ohne selbst Neues hervorzubringen. Indem er diese Sphäre für «heilig» und damit für unantastbar erklärt, verbietet er mir ganz nebenbei, genau hinzuschauen und zu prüfen, wer da zu welchem Zweck welche Arbeit leistet und wofür honoriert werden sollte.
Unheilige Produktivität
Die scheinbar auf-, tatsächlich abwertende Mystifizierung von Tätigkeiten, die als «mütterlich» und gleichzeitig «naturnah» konnotiert sind, ist nur die eine Seite der patriarchlen Zwei-Reiche-Lehre. Die Kehrseite ist ein naturvergessener Begriff von Produktivität.
Der Begriff «Natur» leitet sich vom lateinischen Verb nasci ab, das geborenwerden bedeutet. Natur ist ursprünglich also konzipiert als alles, was Menschen nicht sich selbst verdanken, weil sie Geborene, voneinander abhängig und frei nur in Bezogenheit sind.6 Sobald nun Natur mit dem weiblichen Geschlecht verknüpft und gleichzeitig zum Gegenteil von Geist, Geschichte und Kultur erklärt wird, meint der Mann, sich von seiner eigenen Natürlichkeit befreit zu haben.
So entsteht der «männliche» Begriff von Produktivität, der sich von seinen Voraussetzungen löst. Dieser Begriff von Männlichkeit, der ans Phantasma eines immateriellen «Bewegungsursprungs» anschliesst, kann konkret als Erlaubnis an Männer aufgefasst werden, in ihrem Tätigsein systematisch planetare Grenzen zu ignorieren. Dieses bodenlose Selbstkonzept führt auf direktem Weg in die diversen Krisen unserer Gegenwart: Zwischen Naturvergessenheit und Krieg, Frauenverachtung und Klimakatastrophe, Artenschwund und Marginalisierung diverser «Anderer» bestehen kausale Zusammenhänge.
Ein anderes Narrativ: geburtliches Menschsein
Im Jahr 1977 stellte der Philosoph Hans Saner fest, dass Geburtlichkeit weitgehend ungedacht ist: «Wer nach den Zeugnissen über Geburt und Geburtlichkeit in der Philosophie sucht, wird bald auf einen merkwürdigen Sachverhalt stossen: In der ganzen Geschichte des Denkens gibt es zwar eine breite Spekulation und Reflexion über die Sterblichkeit und besonders über den Tod des Menschen; aber Geburt und Geburtlichkeit sind kaum je eigens bedacht worden.»7 Über Jahrhunderte haben Philosophen Menschen als «die Sterblichen» bezeichnet.
Das befreit dazu, in den multiplen Krisen der Gegenwart das Geborensein neu zu denken als Möglichkeit, «Initiative [zu] ergreifen, Anfänger [zu] werden und Neues in Bewegung [zu] setzen», als «Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare»8. Denn im Prozess des realen In-die-Welt-Kommens aller Menschen aller Geschlechter trifft zusammen, was Patriarchen auseinandergenommen haben: Natur und Kultur, Oikos und Polis, Innen und Aussen, Bezogenheit und Freiheit.
Was sehe ich denn, wenn ich einen neuen Menschen zur Welt kommen sehe? Ich sehe keine unsterbliche Seele in stumme Materie eintreten. Vielmehr rutscht ein blut- und schleimverschmierter kleiner Mensch aus einem grossen Menschen heraus. Oft dauert es Stunden. Geborenwerden ist plural, jedes Gebären ist anders. Wenn es gut geht, ist jemand dabei und hilft; am besten eine Hebamme.
Was sehe ich, wenn ich einen neuen Menschen zur Welt kommen sehe? Ich sehe keine unsterbliche Seele in stumme Materie eintreten.
Geburten sind keine Begegnungen von ewigem männlichem Geist mit begrenztem weiblichem Stoff. Geburten sind Durcheinander und weder heiliger noch weniger heilig als die Produktion von Autos, Socken oder Computern. Das gilt nicht erst seit es Leihmütter, In-vitro-Fertilisationen und Spermabanken gibt. Und es entspricht der Etymologie des Begriffs Produktion. Das lateinische Verb pro-ducere bedeutet hervorführen, hervorbringen oder auch begleiten.
In der menschlichen Anfänglichkeit wird augenfällig, dass alle Menschen aller Geschlechter lebendige Materie sind: Teil der Natur, verletzlich, sterblich und in Bezogenheit frei, Welt mitzugestalten. Wenn es gutgeht, werden die Neulinge von einem fürsorglichen Durcheinander aus Beziehungen und Bezogenheiten empfangen: von Tanten, Onkeln, Vätern, Nachbar*innen, Freund*innen, Müttern, Grosseltern, Ärzt*innen, Gemeinwesen. Jemand durchtrennt die Nabelschnur. Dann fängt das Neue selbst an zu atmen, zu trinken, zu scheissen, zu sehen, zu hören. Später fängt es an zu sitzen, zu stehen, zu laufen, zu sprechen, Ich und Du und Wir zu unterscheiden, Welt so zu gestalten, dass gutes Leben im endlichen Raum Erde möglich bleibt.
Wenn ich Staunen und Sorgen für notwendige menschliche Fähigkeiten halte, wenn ich gleichzeitig beides aus der Privatisierung befreie, dann folgt daraus: Die Produktion von Brot, Klamotten oder Medikamenten ist ebenso heilig wie das «Werden eines Ichs im Mutterleib». Immer, wenn jemand etwas produziert, mit Hirn, Bauch, Brust oder Händen, geht er oder sie mit geschenkter, begrenzter, heiliger Materie um: mit Erde, Wasser, Getreide, mit Heilpflanzen, seltenen Erden, Körpern, Zellen und so weiter. Menschliche Kooperation mit dem vorgegebenen Natürlichen ist immer heilig. Sie muss deshalb immer mit Sorgfalt und Ehrfurcht umgeben werden. Mit «Weiblichkeit» oder «Mütterlichkeit» hat solche heilige Sorgfalt nichts zu tun.
1 Bundesamt für Statistik: Satellitenkonto Haushalts- produktion (Stand 2016). https://bit.ly/3dkbfDj.
2 Uta Meier-Gräwe: Ein seltsamer Deal: Erwerbsunterbrechung als Humankapitalverlust. In: Ina Praetorius, Uta Meier-Gräwe: Um-Care! Ostfildern, erscheint März 2023.
3 Paul Gohlke (Hrsg.): Aristoteles: Über die Zeugung der Geschöpfe Buch II. Paderborn 1981, S. 72.
4 Aristoteles: Politik. Übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon. München 1973, S. 56.
5 Adelheid Biesecker: Sorgearbeit im Zentrum der Wirtschaft. Das Ganze der Ökonomie.
Vgl. auch Neue Wege-Gespräch mit Adelheid Biesecker und Regula Grünenfelder in NW 9.20, S. 9–15.
6 Vgl. Ina Praetorius (Hrsg.): Sich in Beziehung setzen. Zur Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit. Königstein/ Taunus 2005.
7 Hans Saner: Geburt und Phantasie. Von der natürlichen Dissidenz des Kindes. 2. Aufl. Basel 1987 (orig. 1977), S. 11.
8 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. 4. Aufl. München 1985 (orig. 1958), S. 166 f; vgl. auch: Ina Praetorius: Geburtlichkeit als neues anthropologisches Paradigma. In: Hans Jörg Fehle/Andrea Langenbacher (Hrsg.): Dass die Welt wohnlich für alle wird. Klartexte, Anfragen, Perspektiven. Ostfildern 2021, S. 58–66.
Der Artikel ist zuerst erschienen in der Zeitschrift «Neue Wege» als Beitrag zum Themenheft «Geburt». Dieses kann bestellt werden bei [email protected].