Aus der Leidenschaft für die Welt entstünde die Leidenschaft fürs Pädagogische, meinte die Politphilosophin Hannah Arendt. Diese humane Energie kann viel bewirken. Sie generiert eine Haltung jenseits der Erledigungsmentalität. Eine veralterungsresistente Referenz.
Ein vergilbter Artikel hat all meinen Aufräumaktionen getrotzt. Er erzählt die Geschichte des Tessiner Briefträgers Guerino Saglini. Sein Leben lang arbeitet er für die Post. Was denn einen guten Pöstler ausmache, fragt ihn die NZZ beim Übertritt in die Pension. «Passione! Leidenschaft!», antwortet Saglini kurz und bündig. Keinen Tag sei er ohne Freude zur Arbeit gegangen; egal, ob es geregnet oder geschneit habe, fügt er bescheiden bei. [1] Während 46 Jahren.
Im Handeln ist das Wie stärker als jedes Was
Die Leute von Biasca schätzten den Postboten Saglini. Für alle hatte er ein freundliches Wort, ja er zog vor ihnen sogar seinen Pöstlerhut, verbunden mit einem vergnügten «Buona giornata». «Ich habe diese Arbeit geliebt», bekannte er. In diesem schlichten Satz liegt vielleicht das Geheimnis seines Handelns. Saglini, der Briefträger aus Leidenschaft, wirkte mit seinem Tätig-Sein, mit seiner Denkweise und seiner Sprache. Kurz: mit seiner Haltung.
«Im Handeln prägt das Wie jedes Was.» Das Wort geht auf die politische Denkerin Hannah Arendt zurück. [2] Es beinhaltet etwas ganz Grundlegendes: Das Wie des Tuns drückt den Inhalten und Zwecken ihren Stempel auf, bringt sie häufig erst hervor. Wir sehen es bei Saglini. Der passionierte Pöstler verteilt im Städtchen Briefe und Zeitungen; das ist seine Arbeit, das ist sein tägliches Was. Resonanz bei den Menschen von Biasca aber erzielt er mit seinem Wie. Seine Person gibt der Funktion als Briefträger ihren Wert. Zwischen dem Postboten und seinen Kunden baut sich darum eine gemeinsame Welt auf. Diese Welt entsteht mit der Art und Weise, wie Saglini seine tägliche Pöstlerpflicht erfüllt.
Kinder erziehen heisst, Verantwortung für die Welt übernehmen
«Die Welt liegt zwischen den Menschen», unterstreicht Hannah Arendt 1959, als sie den renommierten «Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg» verdankt. [3] Wie aber entsteht diese Welt?, fragt sie. Entscheidend sei das «Zwischen», betont Arendt. Hier bilde sich die gemeinsame Welt vieler Menschen – in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit.
Diese Welt aber sei zerbrechlich und dieses «Zwischen» stets gefährdet und gar «Gegenstand höchster Sorge», fügt sie bei. Sie verlangt darum von den Erwachsenen, dass sie den Kindern gegenüber für diese Welt, wie sie eben ist, einstehen. Auch und sogar dann, wenn sie mit ihr nicht einverstanden seien. Im Rückzug von dieser Welt und von der Verpflichtung für diese Welt sieht die Politphilosophin eine grosse Gefahr. Auch im Pädagogischen. Erzieherinnen und Erzieher stünden den jungen Menschen als Vertreterinnen und Repräsentanten unserer Welt gegenüber. Mit ihrem Beruf, mit ihrer Funktion und in ihrer Position. Darum müssten sie für diese Welt Verantwortung übernehmen. «Wer die Verantwortung für die Welt nicht mitübernehmen will, […] darf nicht mithelfen, Kinder zu erziehen.» [4] Das tönt hart. Doch für Arendt ist es nicht anders möglich.
Die Verantwortung für die Welt zeigt sind in der personalen Autorität
Verantwortung – ein grosses Wort, gar ein schweres. Der ehemalige Bundesrat Moritz Leuenbeger meinte einmal: «Der Verantwortung bin ich zum ersten Mal als Primarschüler auf Bergwanderungen begegnet. Mein etwas älterer Cousin befahl jeweils: ‹Du trägst den Rucksack – und ich die Verantwortung; so sind wir quitt.›» Damals schon hätte er also gewusst, was Verantwortung sei: nämlich ein schwerer Rucksack.
Auch für Arendt ist Verantwortung eine anspruchsvolle Aufgabe. Bei der Erziehung, sagt die politische Philosophin, zeige sich diese Verantwortung für die Welt in der personalen Autorität, der Lehrerpersönlichkeit, wie es früher hiess. Die Autorität der Erzieherin und die Qualifikation des Lehrers seien nicht dasselbe. Die Qualifikation von Lehrpersonen bestünde darin, dass sie die Welt kennen und darüber unterrichten können, aber ihre personale Autorität beruhe darauf, dass sie für diese Welt die Verantwortung übernähmen. Gegenüber dem Kind, so Arendt, nimmt die Lehrerin es gleichsam auf sich, die Erwachsenen zu repräsentieren, die alle sagen und im Einzelnen zeigen: «Schau, dies ist unsere Welt!» [5]
Wirksam ist das Wie des Denkens und Handelns
Im Unterricht bildet sich darum eine gemeinsame Welt, eine Welt verschiedener Generationen – ein Mikrokosmos des Miteinander, eine Lerngemeinschaft zwischen der Lehrerin, dem Lehrer und ihren Schülerinnen und Schülern. Dieses Zusammenspiel ist immer wieder gefährdet. Auch heute. Doch es braucht dieses «[Da-]Zwischen»; es ist wichtig, wie Hannah Arendt mehrfach unterstreicht. Hier spielen das Emotionale, das Beziehungshafte, das Dialogische. Das Dazwischen entsteht und besteht aus der Art des Handelns, des Denkens und Sprechens – es ist die Art, wie Erwachsene tätig sind und dabei auf die jungen Menschen eingehen.
Das Was ist wichtig. Doch so bedeutsam die Lerninhalte sind, zeigt sich in ihnen die Bedeutung des Wie: Wie ich als Lehrerin antworte und etwas formuliere, wie ich als Lehrer handle und den Kindern gegenübertrete, wie ich es vermittle. Die Form konstituiert den Inhalt. Dieser Primat wäre das Prinzip allen pädagogischen Handelns. Eine solche Grundhaltung führt zu einer Kultur jenseits der Erledigungsmentalität.
Im Wie offenbart sich die Person
Hinter den Sachen und Stoffen, hinter den Inhalten, Methoden und Lehrmitteln kann sich ein Lehrer förmlich verstecken: das Was als Schutzwand. Doch keiner kann sich hinter seine Art zu handeln, hinter sein Wie, zurückziehen. Im Wie zeigt sich die Person. Und es ist die Person, die im Unterricht wirkt: mit ihrem Engagement und «Get involved!», mit ihrer Leidenschaft für die Welt und dem Feu sacré für die Sache – und damit für das Lernen der Schülerinnen und Schüler.
Wie dieser Elan im Unterricht wirkt und was er bewirken kann, wissen wir alle. Ein kleines Beispiel: «Wenn sie von Formen und Zahlen sprach, glühten ihr die Wangen und funkelten ihr die Augen, wie wenn Kinder von Schokolade-Glace reden.» [6] So erinnert sich eine Berufsfrau an ihre vitale Primarlehrerin. Jahre später noch sieht sie deren Augen und Backen, fühlt die Atmosphäre und spürt die Freude am Lernen, wie sie offen bekennt. Da war eine Lehrerin mit einer Leidenschaft für die Unterrichtswelt und damit einem unbedingten Engagement fürs Pädagogische am Werk. Diese Leidenschaft entspringt der «Amor Mundi», der Liebe zur Welt, sagt Hannah Arendt. Wie ein Wasserzeichen zieht sich dieses Motiv durch ihr Werk.
Zum Denken als innerem Dialog führen – und zum Verstehen
Das Gleiche gilt für Platons Satz, dass Denken ein «Gespräch zwischen mir und mir selbst» sei. Für Hannah Arendt ein Kernanliegen: junge Menschen zum Denken führen, zu sich selbst. Und zum Verstehen. Das ist ihr wichtig und wesentlich. Und das hat beispielsweise Peter Bichsel, der Lehrer und Schriftsteller, erlebt. Er erinnert sich: «Ich hatte in der 5. und 6. Klasse in Olten einen wunderbaren Primarlehrer: Er hat mich von mir selber überzeugt, mich zum Schriftsteller gemacht. Weil er unter dem ganzen Schlamassel von Rechtschreibefehlern entdeckt hat, dass ich gute Aufsätze schreibe. […] Ich habe ihn geliebt.» [7]
Eben: Die jungen Menschen zu sich selbst führen und aus sich heraus zu ihren Möglichkeiten, zu ihren Potentialen – zum Beispiel zum literarischen Schreiben, wie das Bichsels Lehrer bewirkt hat: Denken als innerer Dialog. Denken kann der Mensch nur selber, aber er braucht Impulse. Darum ist der sokratische Dialog so wichtig: die sokratische Hebammenkunst, das Angeleitet-Werden über das Gespräch, über ein wirksames Feedback. Auch davon spricht Hannah Arendt. Es ist ihr Schlüsselthema: «Ich muss verstehen.» Und auch hier braucht es das «Zwischen»; denn «Die [pädagogische] Welt liegt zwischen den Menschen».
Das Wie ist durch keine Messbarkeit einzuholen
Guerino Saglini, Briefträger aus Passion, ging früher in Pension. Warum? Im Zuge einer Postreform rüffelte ihn ein Inspektor aus Bern. Mit der Stoppuhr erfasste er Saglinis Arbeitsschritte und mass seine Zustelleffizienz. «Vor allen Menschen den Hut ziehen? Das ist [für die Post] zu teuer!», beschied ihm der Kontrolleur aus der Berner Zentrale. Saglini zog die Konsequenzen und quittierte seinen Dienst.
Gemessen hat der Funktionär einzig das Was, den Output. Das Wie dagegen ist nicht quantifizierbar. Wie wichtig dieses Wie ist, weiss jede gute Lehrerin, das hat jeder engagierte Lehrer verinnerlicht. Dieses Wie ist durch keine Messbarkeit einzuholen. Es wirkt im «Dazwischen» und ist vielfach unsichtbar. Ihm müssen wir Sorge tragen. Es ist immer gefährdet. Darum bleibt Hannah Arendts Botschaft zeitlos.
Hannah Arendt (1906-1975)
Vielen bekannt und populär geworden ist Hannah Arendt durch den Kinofilm von Margarethe von Trotta. Sie nennt ihn schlicht: Hannah Arendt. Entscheidend ist der Untertitel: «Ihr Denken veränderte die Welt.» Ein hoher Anspruch. Doch es stimmt: Das Wagnis zu denken, verändere die Welt, schreibt der Publizist und Erziehungswissenschaftler Reinhard Kahl. Zur Bildung und zum Unterricht allerdings hat Hannah Arendt nur wenig publiziert; doch dieses Wenige ist für die Schule bedeutsam. Dazu zählen ihr Vortrag «Die Krise in der Erziehung» und die Lessing-Rede von 1959 mit ihren Grundideen.
Hannah Arendt wächst in Königsberg auf. 1928 promoviert sie in Heidelberg; sie setzt ihre wissenschaftliche Arbeit in Berlin fort. Als Kritikerin des Nationalsozialismus und Jüdin ist sie gefährdet. 1933 flieht sie darum nach Paris. 1941 gelingt ihr die Ausreise nach New York. Hier publiziert sie ihr Hauptwerk «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft». Ein Buch wie ein Jahrhundert.
Ihr unbequemes „Denken ohne Geländer“ bringt ihr Ruhm und Renommee ein. So konnte sie als erste Frau eine Professorenstelle in Princeton übernehmen. 1961 nimmt sie als Berichterstatterin am Eichmann-Prozess in Jerusalem teil. Sie erkennt im Nazi-Schergen Adolf Eichmann nicht jenen bösen Dämon, den sie erwartet hatte, sondern sie erlebt und identifiziert ihn als Spiessbürger. Er verübt unfassbare Gräuel, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Eichmann ist für Arendt nicht mehr nur der Schatten aus der Vergangenheit. Er wird, je genauer sie ihn beobachtet, eine Drohung, die aus der Zukunft kommt: ein seelenloser Funktionär, so Reinhard Kahl. Diese Sicht bringt sie ins Kreuzfeuer der Kritik. Ihr Buch löst heftige Kontroversen aus. Denn die „Banalität des Bösen“, wie Arendt ihren Bericht «Eichmann in Jerusalem» nennt, bedeutet: Man muss anerkennen, dass der Nationalsozialismus kein einmaliges Unglück war, das schicksalhaft über die Menschheit hereinbrach, sondern er ist etwas, das sich jederzeit wiederholen kann, wenn man es zulässt.
Hannah Arendt stirbt 1975 in New York.
[1] Ins Licht gerückt: 16’862 Tage für die Post. In: NZZ, 23.08.2007, S. 9.
[2] Hannah Arendt (1992): Vita activa oder Vom tätigen Leben. 7. Aufl. München: Piper Verlag; vgl. Reinhard Kahl, Hannah Arendt zum 100. Geburtstag: Ihre Aktualität ist ungebrochen, in: DIE WELT, 10.10.2006.
[3] Dies. (2019): Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Dies. (2019), Menschen in finsteren Zeiten. 5. Aufl. Hrsg. von Ursula Ludz. München: Piper Verlag, S. 12.
[4] Dies. (1994): Die Krise der Erziehung, in: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München: Piper, S. 270.
[5] Ebda.
[6] Stephan Ellinger, Johannes Brunner (2015): Alp-Traumlehrer. Von flüchtigen Fledermäusen und multikulturellen Frohnaturen. Studierende erinnern sich. Teilheim: Gemma-Verlag, S. 75.
[7] «Ich wähle nur noch Frauen». Gespräch mit Peter Bichsel. In: DIE ZEIT, 24.06.2021, S. 17.