Jeweils um den 4. Juni erreichen Ihren Korrespondenten Anrufe mit der Bitte, zu Tiananmen 89 Stellung zu nehmen. Kein Wunder, denn Ihr Korrespondent war damals hautnah dabei. Das harte Eingreifen der Volksbefreiungs-Armee gegen die seit Wochen protestierenden Arbeiter, Studenten, Angestellten, ja selbst Parteimitglieder auf und vor allem neben dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen in Peking wird nun seit 31 Jahren kontinuierlich als «Tiananmen-Massaker» bezeichnet. Ein Anrufer kam dieses Jahr mit einer eher seltsamen Frage: War es ein Massaker, und überhaupt, was ist ein Massaker?
Zynisch ausgedrückt, könnte man antworten, es kommt ganz auf die Definition an. Also: ab wie vielen Toten können wir von einem Massaker sprechen. Nach offiziellen Zahlen kamen damals am 4. Juni 1989 240 Menschen ums Leben. Ein mit Ihrem Korrespondenten befreundeter IKRK-Delegierter, der sich damals gerade in Peking aufhielt und Zugang zu Spitälern hatte, kommt auf eine Schätzung von rund Tausend Todesopfern. Der amerikanische Propagandasender Voice of America profilierte sich bereits einen Tag nach dem Armee-Eingriff mit der völlig aus der Luft gegriffenen Zahl von 10’000. Welches die Zahl der Todesopfer auch immer war, für Ihren Korrespondenten ist bereits ein Toter zu viel.
Die telephonisch übermittelte Frage, was denn ein Massaker sei, liess Ihr Korrespondent deshalb unbeantwortet. Ein nachträglicher Blick in Wörterbücher zeigt wenig Präzision. Zu lesen etwa ist: «Blutbad, Gemetzel, Metzelei, Massenmord». Wikipedia definiert da schon genauer: «Ein Massaker ist ein Massenmord unter besonders grausamen Umständen, ein Gemetzel oder Blutbad, häufig im Zusammenhang mit Motiven wie Hass oder Rache. Das Wort leitet sich aus dem altfranzösischen Maçacre, 'Schlachthaus', her».
Dass sich das Schlagwort «Tiananmen-Massaker» sofort in den Medien etabliert hat, ist wenig überraschend. Zum einen folgen sowohl in Medien als auch Politik die einen den andern wie Lemminge, um ja auf der moralisch und politisch korrekten Seite zu stehen. Zum andern transportiert der Ausdruck damals und heute ideal die im Westen verbreitete Anti-China-Stimmung. Unter solchen Wort-Vorzeichen ist jede weitere Analyse hinfällig. Ein genauerer Blick auf die Tiananmen-Proteste und zumal ein genaues Hinterfragen deuten hingegen darauf hin, dass es kein «Massaker» im Sinne des Schlagwortes war. Gewiss, es war ein massiver Armee-Einsatz. Ihr Korrespondent spricht und schreibt deshalb seit über dreissig Jahren von den «tragischen Tiananmen-Ereignissen». Warum?
Zentrum Chinas, Zentrum der Welt
China hatte damals im Jahr zehn der Wirtschaftsreform und der Öffnung nach aussen ökonomisch Mühe. Eine überhitzte Wirtschaft und vor allem eine hohe Inflation schadete den kleinen Leuten, ihr Wohlergehen war in Gefahr. Zudem nahm die Korruption bis hin zu kleinen Beamten wieder zu. Beim Tod des ehemaligen, von Deng Xiaoping abgesetzten, nicht aber aus der Partei verbannten Parteichefs Hu Yaobang Mitte April gedachten Studenten auf dem Tiananmen-Platz des verstorbenen beliebten Politikers. An den Elite-Universitäten im Norden Pekings demonstrierten Studenten zunächst mit unpolitischen Forderungen gegen Missstände wie schlechte Studienverhältnisse und ungeniessbares Essen in den Kantinen.
Die Proteste weiteten sich aus. Die Forderungen wurden politischer. Studenten marschierten auf den Tiananmen-Platz, denn hier befand sich nach chinesischem Verständnis das Zentrum Chinas, ja der Welt. Bald schlossen sich Arbeiter, Angestellte und Beamte an. Mehrere Hunderttausend besetzten den Platz. Auch in andern Städten Chinas kam es verbreitet zu Demonstrationen.
Fallschirm-Journalisten zufällig vor Ort
Dass die Ereignisse auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen schon früh für Schlagzeilen sorgten, hat mit dem Besuch des sowjetischen Parteichefs Gorbatschow in Peking und der Beilegung des sino-sowjetischen Konflikts zu tun. Journalisten aus aller Welt kamen aus diesem Anlass nach Peking und blieben wegen der turbulenten Demonstrationen natürlich nach der Abreise Gorbatschows in der chinesischen Hauptstadt.
Viele dieser Reporter – im journalistischen Fachjargon «Fallschirm-Journalisten» genannt – hatten wenig bis kaum vertiefte Kenntnisse über China. Die Situation wurde mit den andauernden Demonstrationen immer prekärer. Die Polizei war während Wochen unsichtbar. Sie hätte mit den damaligen Mitteln auch wenig ausrichten können, schon gar nicht eine Räumung des Tiananmen-Platzes. Die Ordnungskräfte verfügten damals – ungleich heute – weder über Tränengas noch Gummigeschosse und schon gar nicht über Wasserwerfer.
In der Spitze der Kommunistischen Partei gab es offensichtlich einen Machtkampf zwischen den eher progressiven Reformern, angeführt von Parteichef Zhao Ziyang, und den konservativen Reformern mit Premieminister Li Peng an der Spitze. Zhao Ziyang, der mit gewissen Forderungen der Demonstranten sympathisiert hatte, wurde von Deng Xiaoping abgesetzt und blieb danach bis zu seinem Tode unter Hausarrest. Die Demonstranten forderten mehr Transparenz der Mächtigen gegenüber dem Volk sowie einen entschiedenen Kampf gegen Korruption. Erst ganz am Schluss wurde von einigen Demonstranten der Ruf nach Demokratie laut.
Parteiführung unter Druck
Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping hat schliesslich den Einsatz der Armee befohlen. Er erinnerte sich an die Jahre der Kulturrevolution (1966–76), als er zusammen mit Staatspräsident Liu Shaoqi als «Kapitalist» gebrandmarkt wurde. Deng verbrachte Jahre der Verbannung als einfacher Arbeiter auf dem Land in einer Fabrik. Ende 1978 wieder an der Macht, ermöglichte er die Wirtschaftsreform und Öffnung nach aussen.
Deng war 1989 überzeugt, dass die Weiterentwicklung der chinesischen Wirtschaft und das Wohlergehen der Chinesinnen und Chinesen unter chaotischen Unruhen nicht mehr möglich sei. Der Armee-Einsatz war so für den alternden chinesischen Führer zwingend. Mit seiner berühmten Südreise 1992 kurbelte Deng gegen die konservativen Reformer noch einmal die Wirtschaft an. Ausländische Investitionen flossen nach kurzem Boykott wieder reichlich ins Reich der Mitte.
Das offizielle Pekinger Verdikt zu Tiananmen ‘89 lautet in plattem Partei-Chinesisch «konterrevolutionärer Aufstand». Konterrevolutionär waren die Demonstranten gewiss nicht, allenfalls mit ihren 150-Prozent-Forderungen naiv. Ohne Deng Xiaopings Armee-Einsatz jedoch wäre China und die chinesische Bevölkerung heute nicht ein Land ohne Armut und mit bescheidenem Wohlstand. Tiananmen ‘89 bleibt offiziell bis heute tabu. Für die jungen Chinesinnen und Chinesen sind die Tiananmen-Ereignisseist allenfalls Geschichte. Doch auch China wird sich früher oder später kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Dazu gehören der Grosse Sprung nach vorne (1958–61) mit der katastrophalen, durch Maos Utopie verursachten Hungersnot, die Grosse Proletarische Kulturrevolution (1966–76) und eben Tiananmen ‘89.
«Worte richtigstellen»
Der Ausdruck «Tiananmen-Massaker» wird wohl unter westlichen Journalisten und Politikern unreflektiert noch viele weitere Jahre in Gebrauch sein. Als Konfuzianer denkt aber Ihr Korrespondent, dass man Schlagworte vor und während dem Gebrauch stets hinterfragen sollte. Meister Kong meinte schon vor zweieinhalbtausend Jahren: «Unbedingt die Worte richtigstellen.» Konfuzius wurde noch präziser: «Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das Gesagte nicht das Gemeinte. Wenn das, was gesagt wird, nicht stimmt, dann stimmen die Werke nicht. Gedeihen die Werke nicht, so verderben Sitten und Künste. Darum achte man darauf, dass die Worte stimmen. Das ist das Wichtigste von allem.»
Mit andern Worten, bezogen auf die am Anfang per Telephon gestellte Frage: Tiananmen ‘89 war ein massiver Armee-Einsatz, es war ein tragisches Ereignis. Der politisch neugierige Leser und die kluge Leserin sollten sich vom Schlagwort «Tiananmen-Massaker» nicht einnebeln lassen. Oder in einem Diktum von Deng Xiaoping ausgedrückt: «Die Wahrheit in den Tatsachen suchen».
Doch grundsätzlich gilt für «Tiananmen-Massaker» im Speziellen, diesen Text im Allgemeinen und überhaupt immer, was Meister Kong ebenfalls gesagt hat: «Wer alles glaubt, was er liest, sollte besser aufhören zu lesen.»