Ausgehend von «Bignik», einer durch die Region wandernden Ostschweizer Kunstaktion, präsentiert das Textilmuseum St.Gallen eine beeindruckend sinnliche Ausstellung zur langen Geschichte des Leinwandgewerbes in der Region. Und: Es bietet in einer zweiten Ausstellung Einblick in das faszinierende Schaffen der führenden japanischen Textildesignerin Sudō Reiko.
Man verliebt sich auf Anhieb in den grossen, lichtdurchfluteten Raum. Der sanft ansteigende Teppichboden zeigt Dörfer und Städte, putzige Häuser und weite Felder. Das ist der Rahmen, in dem die Ausstellung «‹gut› Der Anfang ist weisses Gold» im Textilmuseum St.Gallen spielt. An den Wänden sind Abbildungen der Menschen, um die es geht und die Ausstellungskurator Martin Leuthold in Aquarellen der Vadianischem Sammlung der Ortsbürgergemeinde aufgespürt hat. Da sehen wir den Fuhrmann und den Kaufmann, den Bleichemeister und den Leinwandmesser, den Färber und die Stauchentröcknerinnen. In ihren bunten Gewändern und Werkzeugen öffnet sich ganz unangestrengt jene Geschichte, die diese Region der Ostschweiz über Jahrhunderte geprägt hat.
Eine Broschüre vertieft jene Bilder, die über grosse Screens laufen. Sie handeln von dem, was man das «weisse Gold» genannt hat, und das zu bestimmten Zeiten des Jahres rund um die Stadt zum Trocknen ausgelegt und dann in ganz Europa vertrieben worden ist. Das Leinwandgewerbe hat St. Gallen reich gemacht, bevor es dann von Baumwollverarbeitung und Stickerei verdrängt worden ist.
Eine Kunstaktion als Anstoss
Ausgelöst hat diese sinnliche Vertiefung in die Geschichte eine Kunstaktion der Brüder Frank und Patrik Riklin vom St. Galler Atelier für Sonderaufgaben. Immer wieder machen sie mit originellen Kunstaktionen von sich reden, etwa mit dem Null-Stern-Hotel. Die Aktion, um die es hier geht, ist 2012 gemeinsam mit der Organisation für Regionalentwicklung Appenzell Ausserrhoden-St. Gallen-Bodensee entstanden; sie trägt den Titel «Bignik» und soll erst im Jahr 2050 an ihr Ende kommen. Die Idee: In gemeinsamem Sammeln und Zusammennähen wird ein immer grösser werdendes Picknicktuch gefertigt, bis 286’478 Tücher beisammen sind – so viele Einwohner hat die Region. Das Tuchprojekt wandert dabei von Ort zu Ort, am kommenden 12. Juni nun soll es in der Altstadt von St. Gallen ausgelegt werden. Das hat den Anstoss zur Ausstellung gegeben.
Als Frank und Patrik Riklin ihre vor allem auf ein soziales Erlebnis abzielende Aktion vorstellen, kommen Martin Leuthold sofort jene Felder rund um St. Gallen in den Sinn, auf denen seit dem 13. Jahrhundert zwischen März und August ein Meer aus Leinwand ausgelegt wird, damit die Tücher von der Sonne gebleicht werden können. Beide Geschichten – jene von «Bignik» und jene der Leinwandstadt und ihres Umfelds – erzählt Leuthold in seiner Ausstellung parallel.
Schattenseiten einer Erfolgsgeschichte
Gefertigt sind die Leinwandtücher aus Flachs, der in aufwendiger Heimarbeit zunächst zu Garn gesponnen, dann zu Tuch verarbeitet wird. Den zu Ballen gefalteten Stoff tragen Bauern und Zwischenhändler in die Stadt, wo er von städtischen Beamten geprüft wird. Erstklassige Ware erhält dabei ein «G» – für St. Gallen, oder auch für «gut». Daher der Titel der Ausstellung. «G» bedeutet, der Stoff ist zur Weissbleiche zugelassen, und er wird in jenen Fernhandel kommen, der die Stadt reich und auch unabhängig macht. Denn es sind die Einkünfte aus dem Leinwandhandel, die es St. Gallen ermöglichen, sich nach 1457 vom Kloster loskaufen und zur freien Reichsstadt aufsteigen zu können.
Sudō Reiko und ihre überbordende Phantasie
Solche sozialen Aspekte arbeitet auch eine zweite Ausstellung heraus, die im Textilmuseum St. Gallen gerade zu sehen ist und die zu besuchen sich sehr lohnt. Und zwar nicht nur, weil die japanische Textildesignerin Sudō Reiko über eine so überbordende Phantasie verfügt. Sondern auch, weil sie als Designdirektorin der Firma Nuno japanische Handwerkskunst mit neuen Technologien verbindet und dabei besonderes Gewicht auf ökologische Aspekte und die Förderung strukturschwacher Gebiete legt. Seidenkokons, die bisher weggeworfen wurden, werden von ihr zu neuen Produkten verarbeitet, aus Büttenpapier wird Stoff. An mehreren Stationen kann man diesen Prozess mitverfolgen und auch den langen Weg vom ersten Entwurf über ausgeklügelte Materialversuche bis zum ausgereiften Produkt nachvollziehen.
Noch ein Highlight also aus dem Textilmuseum St.Gallen.
Textilmuseum St.Gallen, Vadianstr. 2, 9000 St.Gallen:
- «gut» Der Anfang ist weisses Gold, bis 29. Januar 2023
- Sudō Reiko - Making Nuno, bis 18.September 2022