Der Begriff «Häutungen» ist nicht nur im literarischen Umfeld zu finden. Die Schweizer Künstlerin Heidi Bucher machte das Häuten von Objekten und Räumen zum zentralen Punkt ihrer Arbeit. Nun ist sie in einer Werkschau zu erleben.
Das aufsehenerregende schmale Buch «Häutungen» der Schweizer Schriftstellerin Verena Stefan, das nach seinem Erscheinen 1975 eine wahre Eruptionswelle im Verständnis von weiblichen Daseinsformen und Denkschemata auslöste, dürfte heute noch in der Erinnerung jeder feministisch bewanderten Frau sein. Dass zur gleichen Zeit eine andere Schweizer Künstlerin auf völlig andere, jedoch trotzdem verwandte Art und Weise mit «Abhäutungen» arbeitete, wurde sehr lange nicht in breiterem Umfange wahrgenommen.
«Räume sind Hüllen, sind Häute. Eine Haut nach der anderen ablösen, ablegen.»
Erst nach ihrem Tode 1993 und vor allem mit der posthumen Einladung zur Biennale von Venedig 2017 rückt sie nun als Vertreterin der «Neo-Avantgarde» ins Bewusstsein einer grösseren Öffentlichkeit.
Heidi Bucher, 1926 in Winterthur als Adelheid Hildegard Müller geboren, wählte einen der wenigen Berufe, welche Frauen damals offen standen: Sie wurde Damenschneiderin. Sehr rasch zeigte sich dabei schon ihre Faszination von Oberflächen und der Wirkung von Körpern im Raum. Nach Textildesign-Studien bei Johannes Itten, Max Bill und Elsie Giauque wurde sie jedoch, wie fast alle jungen Frauen der damaligen Zeit, gebremst durch ihre Ehe mit dem Künstler Carl Bucher und durch Geburt und Betreuung der beiden Söhne.
Damals herrschte noch das uralte Schweizer Eherecht von 1907, welches verheiratete Frauen in Berufs-, Wohnsitz- und Vertragsrecht bis 1988 vollkommen vom Ehemann abhängig gemacht hatte.
Der neue Werkstoff Latex
Als ihr Ehemann, der damals recht erfolgreiche Plastiker Carl Bucher, ein Stipendium nach Kanada erhielt, zog die Familie mit. Obwohl Heidi Bucher bereits vorher angefangen hatte, plastisch zu arbeiten, erfolgte erst dann ihre künstlerische Befreiung. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz 1973 und der späteren Scheidung von Carl Bucher wandte sie sich fast ausschliesslich dem bis dato in der bildenden Kunst unbekannten Werkstoff Latex zu, einen durch Erwärmung sehr elastisch und formbar gemachten Grundstoff aus Kautschuk, welcher beim Eintrocknen in der ihm gegebenen Form verbleibt. – Eine Pioniertat im Bereich der bildenden Kunst.
Ab 1980 setzt mit den Abhäutungen ihr Hauptwerk ein, das sie variantenreich bis zu ihrem Tode 1993 weiterentwickelt. Die Gegenstände und zum Teil riesigen Oberflächen, welche sie mit Latex überzieht und häutet, stammen anfänglich aus dem engeren Radius ihres Lebensraums. Beginnend mit dem Parkettboden und Türrahmen und Wänden des Herrenzimmers ihrer Grosseltern-Villa in Winterthur und dem Ahnenhaus, löst sie mit den architektonischen Strukturen auch quasi die patriarchalischen ab – ein Befreiungsakt. Heidi Bucher setzt das Haus auch in Analogie zum menschlichen Körper. Sie nimmt das Innen und Aussen als gegebenes Faktum, welches sich jedoch lebenslang verändern kann und muss.
Das kräftezehrende, mühevolle Abziehen der geheimnisvoll schimmernden, mit Perlmutt eingeriebenen Latexschichten zeigt Bucher auch vor der Kamera. Schon in den Siebzigerjahren führt sie erste tragbare Grossobjekte («Bodyshells») vor, welche sie wie ein Kleid umhüllen, aber explizit geschlechtslos bleiben. Erst ihre Begegnungen mit den Künstlern Ed und Nancy Kienholz sowie Eva Hesse in Kalifornien wecken später ihr empanzipatorisches Bewusstsein.
«Metamorphosen I» im Kunstmuseum Bern
Trotz der in den Achtzigerjahren einsetzenden, durchaus erfolgreichen Ausstellungstätigkeit und mehrerer Auszeichnungen blieb Heidi Bucher in der Schweiz immer eine Art Geheimtipp. Dabei war sie die einzige Schweizer Kunstschaffende, die 2017 posthum an die 59. Biennale von Venedig eingeladen worden war. Daran anschliessend wird uns Heidi Bucher nun mit der ersten umfassenden Schweizer Retrospektive im Kunstmuseum Bern mittels 90 Objekten nähergebracht.
Die faszinierende Schau mit dem treffenden Titel «Metamorphosen» entstand in Zusammenarbeit mit dem Haus der Kunst in München und dem Muzeum Susch. So wie das Schlüpfen einer Libelle – Buchers Totem-Tier, das in der Ausstellung mit mehreren ihrer Kleinskulpturen anschaulich vorgestellt wird – den Wechsel von einem Zustand in den anderen bedeutet, so wechselte diese ausserordentliche Schweizer Künstlerin nicht nur die Oberflächen der sichtbaren Welt.
Heidi Bucher ist zu sehen mit «Metamorphosen I» im Kunstmuseum Bern (bis 7.8.2022) und «Metamorphosen II» im Muzeum Susch/GR (16.7.–4.12.2022)