Noch hat im Präsidentschaftswahlkampf kein einziger Amerikaner seine Stimme abgegeben. Der erste ernstzunehmende Popularitätstest geht am 1. Februar 2016 in Iowa über die Bühne, in jenem überwiegend weissen Staat im Mittleren Westen der USA, der als grosser Produzent von Landwirtschaftsprodukten wie Schweinefleisch oder Mais nicht eben repräsentativ für den Rest des Landes ist. Und dessen Status als „first in the nation“ folglich zu Recht angezweifelt wird. Für etliche Amerikaner an beiden Küsten ist das bibelfeste Iowa Inbegriff tiefster Provinz, leicht zu verwechseln mit Idaho oder Ohio.
Unmögliche Prognosen
Wer Prognosen über den Ausgang der „Iowa caucuses“, lokaler Parteitreffen, wagt, tut dies meist aufgrund der Ergebnisse häufiger Meinungsumfragen. Nur zeigt die Erfahrung: Wer sich in Befragungen äussert, geht nicht immer wählen, und falls er wählen geht, entscheidet er sich nicht immer für jenen, den er laut Umfrage bevorzugt. Kommt dazu, dass Befrager, anders als im Falle von Landlinien, Benutzer von Mobiltelefonen per Gesetz nicht automatisch anrufen lassen dürfen, sondern sie von Hand anwählen müssen, was mehr Aufwand und Kosten verursacht.
Der Flut atemlos zitierter Meinungsumfragen zum Trotz: Zum jetzigen Zeitpunkt weiss Experten zufolge eine Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner noch nicht, für wen sie in einer der Vorwahlen in den nächsten Monaten oder bei der Entscheidungswahl am 8. November stimmen will. Sämtliche Prognosen sind also mit Vorsicht zu geniessen. Sie bilden bestenfalls einen Zwischenstand im unberechenbaren Rennen um den Einzug ins Weisse Haus ab. Und zu oft haben sich auch so genannte Insider geirrt, wenn‘s sein muss noch in der Wahlnacht.
Unsicherheitsfaktor Sanders
„Conventional wisdom“, die gängige Meinung, will es, dass bei den Demokraten Hillary Clinton vorne liegt, auch wenn ihr Bernie Sanders, der bärbeissige selbsterklärte „Sozialdemokrat“ aus Vermont, in Iowa laut Umfragen gefährlich nahe kommt und sie in New Hampshire, wo eine Woche später gewählt wird, sogar schlägt. Sanders ist es zweifellos gelungen, mit seiner Botschaft von einer gerechteren Gesellschaft den Nerv der Zeit zu treffen, obwohl sich Amerikas Wirtschaft wieder etwas erholt hat und die Arbeitslosenzahlen unter Präsident Barack Obama sinken. Auch hat es der 75-jährige Senator zur Überraschung vieler geschafft, ähnlich viele Wahlspenden zu sammeln wie seine Konkurrentin – mit dem Unterschied, dass Sanders auf eine Menge kleiner und Hillary Clinton auf wenige grosse Spender zählt.
Zwar lässt sich nur schwer voraussagen, was für eine Wirkung Siege von Bernie Sanders in Iowa und New Hampshire auf das „momentum“, die Dynamik des demokratischen Präsidentschaftswahlkampfs hätten. Als sicher aber gilt, dass es für ihn in späteren Vorwahlen schwieriger werden wird, gegen Hillary Clinton zu bestehen – vor allem in den amerikanischen Südstaaten. Denn dort kann die frühere First Lady auf die Stimmen der Afroamerikaner zählen, die dem Liberalen Sanders nicht nur wohlgesinnt sind.
Nervöse Favoritin
Trotzdem soll angesichts jüngster Umfrageergebnisse die Nervosität im Lager Hillary Clintons wachsen. Als Indiz dafür wird ihr Auftritt anlässlich der letzten demokratischen TV-Debatte in Des Moines (Iowa) angeführt, als sie ihren Konkurrenten erstmals persönlich attackierte, während sie ihn in früheren Debatten noch weitgehend ignoriert hatte. Auch griff Tochter Chelsea Clinton mit unzutreffenden Behauptungen zu Sanders‘ Standpunkt in Sachen Krankenversicherung direkt in den Wahlkampf ein.
Clintons Nervosität noch steigern dürften neuerdings Berichte, wonach Michael Bloomberg, der frühere Bürgermeister von New York, mit dem Gedanken spielt, als Unabhängiger für das Präsidentenamt zu kandidieren. Einer Online-Umfrage zufolge würde ein Einstieg des 73-jährigen Multimilliardärs eher den Demokraten als den Republikanern Stimmen abjagen, steht Bloomberg doch mit etlichen seiner Überzeugungen zum Beispiel in Fragen der Schusswaffenkontrolle oder der Abtreibung dem liberalen Lager näher als dem konservativen. Auch in Sachen Umweltschutz oder Einwanderungsreform vertritt der Medienmogul nicht eben die Ansichten der republikanischen Partei.
Wettrennen zwischen Milliardären?
Zwar will sich Michael Bloomberg angeblich erst Anfang März entscheiden, ob er in den Wahlkampf einsteigt oder nicht. Er mache das, heisst es, vom Erfolg Hillary Clintons in den Vorwahlen abhängig, denn ein Kandidat Bernie Sanders, der reiche Amerikaner stärker besteuern will, wäre ihm nicht genehm. Auch eine Bewerbung Donald Trumps auf republikanischer Seite ist Bloomberg dem Vernehmen nach nicht geheuer, obwohl der Bauunternehmer „äusserst glücklich“ wäre, gegen einen „langjährigen Freund“ anzutreten: „Das wäre in tolles Wettrennen.“
Und selbst im Falle einer Kandidatur Hillary Clintons ist es Vertrauten zufolge zwar „bedeutend weniger wahrscheinlich“, aber „nicht unmöglich“, dass Bloomberg antritt. Er könnte jedenfalls seinen Wahlkampf, ähnlich wie Donald Trump, aus seinem auf 37 Milliarden Dollar geschätzten Vermögen finanzieren und sich auf seine unbestrittene Erfahrung als Bürgermeister ohne ideologische Schlagseite berufen. Bernie Sanders indes hält, wenig überraschend, von einer Kandidatur Michael Bloombergs nicht viel: „Darum geht es meines Erachtens in der amerikanischen Demokratie nicht: um einen Wettkampf unter Milliardären.“ Sollte es aber dazu kommen, sei er überzeugt, gewinnen zu können.
Bloombergs Langeweile
Auch keine Chancen räumt Bloomberg der Politologe Larry Sabato von der University of Virginia ein – egal, wieviel Geld er in den Wahlkampf stecke. Laut Sabato wäre es Wunschdenken, anzunehmen, es gebe Millionen liberaler Republikaner und gemässigter Demokraten, die ihn wählen würden: „Die Prozente, die er gewänne, würden unverhältnismässig dem demokratischen Bewerber fehlen (…) Bloomberg könnte dem republikanischen Kandidaten, selbst wenn es Trump wäre, Siegeschancen an Orten einräumen, wo er sonst nicht konkurrenzfähig wäre.“
Andere Stimmen verweisen auf die Schwierigkeiten, die Michael Bloomberg zweifellos hätte, innert kurzer Zeit landesweit eine Wahlkampforganisation auf die Beine zu stellen. Das erfordert nicht nur Finanzen, sondern auch Organisationstalent und viel Motivation. Schliesslich gibt es auch jene, die sagen, der frühere Bürgermeister langweile sich nach seinem Abschied aus der Politik und dem Wiedereintritt ins Geschäftsleben und suche deshalb eine neue Herausforderung.
Der texanische Unternehmer Ross Perot 1992 und mit der Reform Party 1996 sowie Ralph Nader 1996, 2000, 2004 und 2008 waren ähnliche Sprengkandidaten. Perrot gewann als Unabhängiger 1992 rund 19 Prozent der Stimmen und 1996 noch 8,4 Prozent, wobei er im ersten Fall eher George H. W. Bush als Bill Clinton geschadet haben dürfte. Nader erreichte als Drittkandidat 2000 mit 2,74 Prozent sein Maximum an Stimmen. Als „Zünglein an der Waage“ etwa in Florida machte er damals dem Demokraten Al Gore einen Strich durch die Rechnung. Hätte Nader nicht kandidiert, Al Gore und nicht George W. Bush wäre wohl 43. Präsident der Vereinigten Staaten geworden.
Trump und Palin für Arme und Ungebildete
Unverändert präsentiert sich das Bild auf republikanischer Seite, wo sich Donald Trump und Ted Cruz, in Iowa laut Umfragen fast gleichauf, erbittert bekämpfen und um die Stimmen rechter Wähler ringen. Diese machen Politologen zufolge bei den Republikanern rund 30 Prozent der Parteimitglieder aus. Während Cruz dieses Wählersegment, zu dem auch die Evangelikalen gehören, methodisch umwirbt, sammelt Trump Stimmen, wo immer er sie finden kann, „wie ein Schneepflug auf der Autobahn“ („The New Yorker“).
Er scheut sich auch nicht davor, kontroverse Charaktere wie die diskreditierte Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin, die frühere Gouverneurin von Alaska, für seine Zwecke einzuspannen. Trumps feurigsten Anhänger sind weniger gebildet und ärmer, seine erbittertsten Gegner höher gebildet und reicher. „The Donald“, schliesst ein Beobachter, habe, was früher eine ideologische Auseinandersetzung innerhalb der republikanischen Partei war, in einen Klassenkampf verwandelt.
Republikanische Nomination ausser Kontrolle
Berichterstatter in den USA sind sich einig, dass der Parteiführung der Republikaner die Kontrolle über den Nominationsprozess völlig entglitten ist. Was einst gegolten hat, gilt heute nicht mehr. So zum Beispiel die Erkenntnis, dass die Wähler Kandidaten bevorzugen, die Exekutiverfahrung vorzuweisen haben. Bei Gouverneuren ist das der Fall. Doch John Kasich (Ohio), Chris Christie (New Jersey), Ex-Gouverneur Jeb Bush (Florida) und Marco Rubio (zwar Senator) vereinigen laut Umfragen landesweit lediglich 30 Prozent der Stimmen auf sich. Donald Trump, Senator Ted Cruz und der frühere Neurochirurg Ben Carson dagegen erfreuen sich eines Zuspruchs von insgesamt 60 Prozent.
Selbst Geld scheint im Wahlkampf 2016 nicht jene Rolle zu spielen, die ihm prognostiziert worden ist. Milliardäre wie die Gebrüder Charles und David Koch aus Wichita (Kansas), die auf republikanischer Seite 900 Millionen Dollar in den Wahlkampf zu pumpen planten, haben öffentlich ihren Mangel an Einfluss auf das Geschehen beklagt. Sollte sich am Ende weder Donald Trump noch David Cruz klar absetzen oder unerwartet einer der bisher „Ferner liefen…“ wie Marco Rubio an Statur gewinnen, droht den Republikanern Mitte Jahr in Cleveland (Ohio) ein „offener“ Parteikongress.
Falls keiner der Kandidaten in der Quicken Loans Arena genügend Delegiertenstimmen hinter sich versammeln kann, um nominiert zu werden, müsste der Sieger, wie letztes Mal 1976, in einem mühsamen Kuhhandel erkoren werden. Die Einheit der Partei, schon heute stark gefährdet, würde wohl weiter Schaden nehmen. Und dieser könnte schlimmstenfalls irreparabel sein. Auf jeden Fall soll es unter eingefleischten Republikaner bereits Kreise geben, die sich nach dem Namen einer neuen Partei umsehen, die zu gründen wäre, sollte Donald Trump die Nomination gewinnen. Ein Trump-Anhänger hat per Twitter bereits einen Vorschlag gemacht: „Schlechte Verlierer“.
Quellen: „The New York Times“, „Washington Post“, „Time“, “The New Yorker”, “Rolling Stone”, „Financial Times”, “The Independent”