Ohne Erklärung verbietet Israel sechs medizinischen Partnerorganisationen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Zugang zum Gaza-Streifen. Dies, obwohl die ärztliche Versorgung im Kriegsgebiet nach wie vor katastrophal ist. Doch Appelle des medizinischen Personals verhallten weitgehend ungehört.
Noch am vergangenen Freitag hatte ein Sprecher der israelischen Armee (IDF), angesprochen auf Hilfslieferungen in den Norden Gazas, erklärt, die IDF würden die Hamas, aber nicht die Menschen im Küstenstreifen bekämpfen. Tags zuvor hatte die WHO mitgeteilt, dass sechs mit ihr kooperierende medizinische NGOs nicht mehr in Gaza operieren dürften. Die Uno-Unterorganisation zeigte sich besorgt über die Auswirkungen des Verbots auf die Gesundheitsversorgung in Gaza, wo nur noch 17 von 36 Spitälern funktionieren und «der medizinische Bedarf die Kapazität des Systems bei weitem überfordert».
Die für Hilfslieferungen zuständige Stelle der israelischen Armee (COGAT) sagte in Reaktion auf die Mitteilung der WHO, Israel beschränke die Zahl humanitärer Teams nicht, die im Auftrag der internationalen Gemeinschaft Gaza betreten könnten – «abhängig von technischen Arrangements, die aus Sicherheitsgründen erforderlich sind». Israel, so die IDF, hätte bereits mehr als 1000 Ärzten und humanitären Teams Zugang gewährt.
Keine internationalen Beobachter
Zu den von Israel sanktionierten NGOs gehören Glia, die sich auf qualitativ hochstehende medizinische Geräte spezialisiert, sowie die Palestinian American Medical Association (PAMA). Beide Organisationen sind vor dem 7. Oktober 2023 schon während Jahren in Gaza tätig gewesen. «Es fallt mir schwer, nicht zu glauben, dass der Entscheid, internationale Gesundheitshelfer zu bannen, kein gezielter Versuch ist, die Zahl internationaler Beobachter in Gaza zu beschränken.»
Da Israel der ausländischen Presse keinen Zugang zu Gaza gewährt, sind Angehörige des medizinischen Personals die einzigen internationalen Zeugen allfälliger Kriegsverbrechen im Küstenstreifen. CNN hatte bereits im Juli berichtet, Israel untersage Ärzten palästinensischer Herkunft die Tätigkeit in Gaza. Derweil hat der jüdische Staat auch die Einfuhr von Medikamenten und medizinischen Geräten nach Gaza eingeschränkt. Einem Bericht der «Washington Post» vom April zufolge betraf dies zumindest in einem Fall auch Krücken, Narkosemittel und Material für Feldspitäler.
Unsichere Safe Zones
Dr. Nizam Mamode, ein pensionierter britische Chirurg, der für die NGO Medical Aid for Palestinians (MAP) im Nasser-Spital in Gaza arbeitete, hat der Kolumnistin Arwa Madhawi des «Guardian» über seine Erfahrungen berichtet. Obwohl er bereits in vielen Kriegsgebieten tätig gewesen sei, erzählt der Arzt, so etwas wie in Gaza habe er noch nie gesehen: «Fast jeden Tag hatten wir ein oder zwei Vorfälle mit vielen Opfern und das waren jeweils 10 bis 20 Tote, 20 bis 40 Schwerverletzte … die Mehrheit unter ihnen waren Frauen und Kinder, vielleicht 60 bis 70 Prozent.» Dies seien, betont Dr. Mamode, mehrheitlich Menschen gewesen, die sich in Gebieten aufhielten, die Israel als sicher erklärt hatte.
Doch Aussagen wie jene des britischen Chirurgen, bedauert die Kolumnistin, würden auch im Weissen Haus auf taube Ohren stossen: «Die bedingungslose Unterstützung Israels hält an. Entschuldigungen für Israels völkermörderische Gewalt werden weiterhin geäussert. Es sei Selbstverteidigung, sagt man uns. Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung.»
Zivilisten und Helfer im Visier
Selbstverteidigung? Dr. Mamode erzählt, wie er eines Tages einen siebenjährigen Jungen operiert habe, der berichtet hatte, was ihm passiert war: «Die Druckwelle einer Bombe hat ihn umgeworfen und er lag am Boden, hörte dieses Geräusch, blickte auf und da war eine Drohne und die feuerte auf ihn. Sie verursachte schwere Verletzungen im Brust- und Bauchbereich. Seine Leber und sein Rückenmark waren beschädigt, ebenso sein Darm und ein Teil seines Magens hingen aus dem Bauch heraus. Solche Geschichten hörten wir wiederholt. Es war also kein Einzelfall.»
Ihm sei auch untersagt gewesen, teilt der Chirurg weiter mit, irgendetwas ausser persönlichen Dingen nach Gaza hineinzunehmen, obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, auch Medikamente und Geräte mitzutransportieren, was in früheren Jahren noch möglich gewesen sei. Er habe sowas zuvor noch nie erlebt: «Ich habe noch nie gesehen, dass Zivilisten so beständig ins Visier genommen werden, dass auf Helfer, einschliesslich auf medizinisches Personal, so bewusst gezielt wird.»
Alles Lügen?
Es werde mit Sicherheit Leute geben, schreibt Arwa Madhawi, die Dr. Mamodes Aussagen als Lügen einstufen würden. Sie verweist aber auf einen Meinungsbeitrag der «New York Times», welcher der Zeitung jüngst heftige Kritik eingetragen hat: «Gesammelte Aussagen aus erster Hand von 65 in den USA domizilierten Gesundheitsfachleuten, die im vergangenen Jahr in Gaza tätig gewesen sind und mit ‘Times Opinion’ mehr als 160 Fotos und Videos teilten, um ihre detaillierten Berichte zu untermauern, die von Kindern handeln, denen in den Kopf oder in die Brust geschossen worden ist.»
Der Inhalt des Meinungsbeitrags der «Times» ist schwer verdauliche Kost. Von 65 befragten Ärzten, Krankenpflegerinnen und Sanitätern geben 44 an, wiederholt Fälle von Kindern unter zwölf Jahren erlebt zu haben, die von Schüssen in den Kopf oder den Bauch getroffen worden waren. «Eines Nachts auf dem Notfall sah ich im Verlauf von vier Stunden sechs Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren, alle mit Schussverletzungen im Kopf», berichtet der 36-jähirge Chirurg Mohammed Rassoul Abu-Nuwar General aus Pittsburgh (Pennsylvania).
Inkonsequente US-Politik
«Unser Team behandelte vier oder fünf Kinder, zwischen fünf und acht Jahre alt, denen alle mit einer einzigen Kugel in den Kopf geschossen wurden war. Sie alle trafen gleichzeitig auf dem Notfall ein. Sie starben alle», erzählt die plastische Chirurgin Dr. Irfan Galaria aus Chantilly (Virginie). Der Chirurg Dr. Khawaja Ikram aus Dallas (Texas) zitiert den Vater zweier erschossener Kinder im Alter zwischen drei und fünf Jahren, der berichtete, ein Scharfschütze der israelischen Armee habe auf sie geschossen, als sie in Khan Junis nachschauen gehen wollten, was von ihrem zerbombten Haus übriggeblieben war.
«Was amerikanische Ärzte und Krankenschwestern im Gazastreifen aus erster Hand erfahren haben, sollte die Politik der Vereinigten Staaten in Gaza beeinflussen», folgert in der «New York Times» der Meinungsbeitrag des Chirurgen Feroze Sidhwa aus Stockton (Kalifornien)Dallas (Texas): «Die tödliche Kombination aus dem, was Human Rights Watch als wahllose militärische Gewalt beschreibt, aus dem, was Oxfam die absichtliche Einschränkung von Nahrungsmittelhilfe und humanitärer Hilfe nennt, aus der fast flächendeckenden Vertreibung und aus der Zerstörung des Gesundheitssystems hat jene katastrophalen Auswirkungen, vor denen viele Holocaust- und Völkermordforscher schon vor fast einem Jahr gewarnt haben.
Schlimmstmögliche Rechtsverstösse
Zu bedenken gibt Dr. Sidhwa schliesslich auch Folgendes: «Das amerikanische Recht und die amerikanische Politik verbieten seit langem die Lieferung von Waffen an Staaten und militärische Einheiten, die grobe Menschenrechtsverletzungen begehen, insbesondere – wie eine Aktualisierung der United States Conventional Arms Transfer Policy aus dem Jahr 2023 deutlich macht –, wenn diese Verletzungen gegen Kinder gerichtet sind. Es ist schwer vorstellbar, dass es schlimmere Verstösse gegen diese Norm gibt, als dass kleinen Kindern regelmässig in den Kopf geschossen wird, dass Neugeborene und ihre Mütter aufgrund blockierter Nahrungsmittelhilfe und zerstörter Wasserinfrastrukturen verhungern und dass das Gesundheitssystem zerstört ist.»
Der Traumachirurg ist auch Verfasser von zwei offenen Briefen an Joe Bidens Weisse Haus, den Dutzende amerikanischer Ärzte mitunterzeichnet haben, die in Gaza tätig waren. Antworten aus Washington DC trafen jedoch keine ein. Die israelische Armee derweil, von der «New York Times» um Stellungnahme zu ihrem Meinungsbeitrag gebeten, beantwortete keine der von der Zeitung spezifisch gestellten Fragen. Aus Tel Aviv hiess es lediglich, die IDF würden stets internationales Recht einhalten.
Der Verlust an Humanität
In der liberalen israelischen Tageszeitung «Haaretz» beklagt deren Kolumnist und Mitherausgeber Gideon Levy Israels Verlust an Humanität nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und dem Vergeltungskrieg in Gaza, einen Verlust, wie er sich nicht zuletzt in der einseitigen Berichterstattung der nationalen Medien äussert: «Für Israel könnte dieser Verlust an Menschlichkeit gegenüber den Palästinensern nicht mehr gutzumachen sein. Dass sich ein Land nach dem Krieg wieder an seine Menschlichkeit erinnert, ist stark zu bezweifeln. Der Verlust an Menschlichkeit im öffentlichen Diskurs ist eine ansteckende, mitunter tödliche Krankheit. Eine Genesung ist schwierig. Israel interessiert sich nicht mehr dafür, was es dem palästinensischen Volk antut, denn ‘sie haben es ja verdient!’ – sie alle, Frauen, Kinder, Alte, Kranke, Hungernde und die Toten.»
Solche Vorwürfe will Israels Uno-Botschafter Danny Danon nicht gelten lassen. Israel, sagte der Diplomat Mitte Woche, gehe «weit über unsere Verpflichtungen» hinaus, was humanitäre Hilfe betrifft. Verteidigungsminister Yoav Gallant soll seinem amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin gegenüber geäussert haben, es gebe keinen Plan, «Menschen verhungern zu lassen». Was aber einige israelische NGOs zu bezweifeln wagen.
Noch im August hatte Finanzminister Bezalel Smotrich gesagt, unter Umständen sei es «gerecht und moralisch», zwei Millionen Menschen in Gaza hungern zu lassen, falls die israelischen Geiseln nicht freigelassen würden. Anfang Woche berichtete die Nachrichtenagentur AP, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erwäge einen Plan, den Norden Gazas für humanitär Hilfe abzuriegeln und Zivilisten, welche die Region nicht verliessen, als feindliche Kämpfer einzustufen.