Ein kleiner Ort mit verkehrstechnisch nicht gerade begünstigter Lage in einer wirtschaftlichen Problemregion Deutschlands besitzt seit bald einem Jahr ein neues Kunstmuseum, das in der Liga der besten und schönsten Museumsbauten Europas einen Spitzenplatz einnimmt. Wie ist das möglich?
Künstlerkolonie Ahrenshoop
Das einstige Seefahrerdorf an der deutschen Ostseeküste hat seit über hundert Jahren in der Kunst einen klingenden Namen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde der auf einer Landenge zwischen der See und dem nahen Binnengewässer – dem Bodden – gelegene Ort von Malern entdeckt. Ahrenshoop wurde zum Künstlerdorf, in welchem ein gutes Dutzend Malerinnen und Maler lebten und arbeiteten. Eine Malschule zog bald auch Freizeitkünstler an. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hielten sich Berühmtheiten wie Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Lyonel Feininger und Erich Heckel zeitweise hier auf.
Die in Ahrenshoop um die Jahrhundertwende entstandene Szene war eine der damals zahlreichen europäischen Künstlerkolonien. Im französischen Pont Aven, im dänischen Skagen, im polnischen Kazimierz, im deutschen Worpswede oder im schweizerischen Ascona fanden sich Malerinnen und Maler zusammen, um der Hektik der Metropolen zu entfliehen und sich in Plein-Air-Malerei den Erscheinungen von Landschaft und Licht zu widmen.
Kunst im Ostseebad
Erst im Gefolge der künstlerischen «Kolonisierung» wurde Ahrenshoop zum Seebad und zur touristischen Destination. Die Tradition der Künstlerkolonie hielt sich auch im NS-Staat und bis in die DDR-Zeit. Das Dorf auf dem Fischland blieb ein Ort der Maler und Bildhauer, und dieser Nimbus, verbunden mit dem Vorteil der Abgeschiedenheit, gewährte einzelnen Kunstschaffenden in der Zeit der Diktaturen offenbar gewisse Freiräume.
Seit den siebziger Jahren veranstaltete der DDR-Kulturbund in Ahrenshoop jährliche Grafikauktionen. Nach der Wende wurden die Auktionen neu belebt, und zwar bereits mit der Idee, der besonderen Kunstgeschichte des Ortes eine breitere Wahrnehmung zu verschaffen. So entstand in Ahrenshoop nicht nur eine dauerhafte Verbindung von Kultur und gehobenem Tourismus, sondern vor allem ein ganz ungewöhnliches privat initiiertes und zum Erfolg geführtes Kulturprojekt.
Exemplarische Bürgerinitiative
Durch die Auktionen kam im Lauf der Zeit ein bedeutender Bestand von Werken aus der Künstlerkolonie oder mit Bezug zu ihr zusammen. Dieser Schatz sollte in Ahrenshoop einen Ausstellungsort bekommen, eine Institution mit einer dem Erbe der Künstlerkolonie angemessenen Anziehungs- und Strahlkraft, kurz: Ein Museum sollte gebaut werden.
Im Jahr 2005 gelang es, aus dem Kreis der an den Ahrenshooper Auktionen Interessierten einen Aktionsträger mit dem Namen «Verein der Freunde und Förderer des Kunstmuseums Ahrenshoop» zu gründen. Unter der etwas betulichen Bezeichnung entwickelte sich rasch eine professionell und zielstrebig vorangetriebene Aktivität. Gemeinsam mit der Bauhaus-Universität in Weimar führten die Ahrenshooper einen Studentenwettbewerb für die Planung des Museums durch. Dessen Ergebnisse wurden geschickt genutzt, um die Idee am Ort zu propagieren und zu testen. Die Reaktionen von Bevölkerung und Behörden gaben wichtige Hinweise für den weiteren Planungsprozess.
Wie man ein Top-Museum baut
Als den Initianten das bestgeeignete Grundstück durch einen Glücksfall vor die Füsse fiel, fackelten sie nicht lange. Sie kauften die Parzelle und führten einen Architektenwettbewerb durch, zu dem fünf lokale, fünf nationale und fünf internationale Büros eingeladen wurden. Die Namen der Wettbewerber zeigten schon, dass man nicht nur hoch hinaus wollte, sondern gleich die europäische Spitze anvisierte.
Das Vorgehen folgte stets in etwa dem Muster: erst die Idee ausarbeiten, dann die bestmögliche Realisierung planen – und zum Schluss die Finanzierung regeln. Das war mutig, weil für die Initianten mit erheblichen Risiken verbunden, aber es war auch raffiniert: Das Projekt stand nie still, es ging immer vorwärts. So hielt man Förderer bei der Stange und setzte zögerliche Instanzen unter Zugzwang.
Neun Jahre nach der Propagierung der Idee wurde in Ahrenshoop das neue Kunstmuseum eröffnet. Die private Einrichtung besitzt ein Haus, eine Sammlung, ein Konzept für ihre Rolle in der nationalen und europäischen Museumslandschaft und ein – wie sich zeigen sollte – funktionierendes Geschäftsmodell für den zu hundert Prozent eigenwirtschaftlichen Betrieb.
Dieser schier unglaubliche Erfolg verdankt sich einem Kreis von Initianten, die ohne offizielles Mandat, rein aus Begeisterung für eine Idee, sich über Jahre ins Zeug legten, die fachlich versiert und kommunikativ geschickt vorgingen, Wagemut und Durchhaltevermögen bewiesen – und wohl auch eine Portion Glück hatten. Es würde sich lohnen, die Höhenflüge und Beinahe-Abstürze, Sackgassen und Durchbrüche dieser schier unglaublichen Erfolgsgeschichte im Einzelnen nachzuzeichnen. Der Entstehungsprozess ist nämlich ebenso begeisternd wie das aus ihm hervorgegangene Museum.
Die Architektur: fremd und vertraut
Aus den Wettbewerbsarbeiten wählte die Jury 2008 einstimmig den Entwurf des renommierten Berliner Büros Staab Architekten. Volker Staab hat sich nicht zuletzt mit einer ganzen Reihe von bedeutenden Museumsbauten einen Namen gemacht. Für das empfindliche Ensemble der Landschaft und des Ortsbilds von Ahrenshoop erfand er einen aus fünf Häusern dicht gruppierten Komplex, der traditionelle regionale Bauformen reflektiert. Es gibt in der Nachbarschaft Gehöfte mit ähnlichen Silhouetten und Kubaturen.
Doch Staabs Museum imitiert nicht, betreibt keine Mimikri. Das Reet auf den umliegenden Dächern wird auf den Museumshäusern zum unregelmässig plissierten Messing. Den Aussenwänden ist das gleiche Material vorgehängt, und auf dem First der Walmdächer sitzt ein wiederum senkrechter Aufbau. Er erinnert visuell an die Reet-Überstände der traditionellen Dächer, birgt aber die raffinierte Tageslicht-Technik der weitgehend fensterlosen Ausstellungsräume. Die bei der Eröffnung noch goldglänzenden Messingflächen sind nach einem Jahr in vorgesehener Weise durch Oxydation nachgedunkelt und werden sich noch weiter verändern – wie Reetdächer das auch tun. Staabs Museumshäuser strahlen Strenge, ja eine formale Radikalität aus, aber sie trumpfen nicht auf, sondern ordnen sich ein. Das Museum will an diesem Ort etwas Fremdes sein – aber doch ganz unzweifelhaft an diesen Ort gehören.
Ein Museumsbau, der diese Botschaft verkörpert, ist eins mit der Idee von Kunst überhaupt. Sie macht uns, was immer sie zeigt, fremd – manchmal ein wenig, manchmal sehr oder gar schockierend fremd – und führt uns zu einem veränderten Sehen dessen, was wir zu kennen meinten. Volker Staabs Ahrenshooper Kunstmuseum gehört zu den überzeugendsten der neueren europäischen Museumsbauten. Schon das Haus ist die Reise wert, und die Begegnung mit der Ahrenshooper Künstlerkolonie vermag auch den von grossen Häusern verwöhnten Kunstfreund zu faszinieren.
Informationen zu Sammlung, Wechselausstellungen und Gebäude bietet die Website des Kunstmuseums Ahrenshoop.