Bücher haben ihre Schicksale, sagt das lateinische Wort, und Bücher haben ihre Biografien. Das trifft wohl auf wenige so sehr zu wie auf das Tagebuch der Anne Frank. Der deutsche Literaturhistoriker und Verlagslektor Thomas Sparr hat Leben und Wirken dieses aussergewöhnlichen literarischen Dokuments ebenso gründlich wie stilsicher nachverfolgt.
Seit seinem Erscheinen, erstmals 1947 auf Holländisch, 1950 auf Deutsch, wurde es in zahllose Sprachen übersetzt und millionenfach gelesen. Es wurde, wie Thomas Sparr schreibt, «zu einem Kultbuch im guten wie im schlechten Sinne: weit verbreitet, aufmerksam gelesen, ergreifend. Aber die Singularität des einen Schicksals verstellte oft den Blick auf das System der Verfolgung und Vernichtung von Menschen während des Nationalsozialismus.»
Änderungen, Konflikte, Interpretationen
Wieviel Änderungen es erfuhr, welche persönlichen und juristischen Konflikte um dieses Buch ausgefochten wurden, wie unterschiedlich es gelesen, was in Europa, Asien, Asien, oder Amerika alles reininterpretiert und wie vieles überlesen, nicht oder falsch gedeutet wurde, diese Geschichte ist weniger bekannt.
Thomas Sparr, lange Zeit Leiter des Jüdischen Verlags bei Suhrkamp und bis heute im Hause tätig, ist berufen wie kaum einer, diese Geschichte darzulegen. Die Anregung dazu kam von Yves Kugelmann, Herausgeber des «Tachles» und engagiert beim Basler Anne Frank Fonds, den einst Anne Franks Vater Otto eingerichtet hatte. Otto Frank hatte sich nach dem Krieg in Basel niedergelassen. Seine Frau Anne und ihre Schwester Margot hatten die Nazis umgebracht, er als einziger der Familie überlebte. Das Buch seiner Tochter wurde ihm zur Lebensaufgabe.
Ein Buch, das eine komplizierte Geschichte hat und das es in unterschiedlichen Ausführungen gibt. Erst 1991 erschien die weltweit verbindliche Ausgabe, herausgegeben von Mirjam Pressler. Die Änderungen, die Gründe dafür, die verdeckten oder offenen Motive, das alles zeichnet Sparr minutiös nach. Es ist zuerst einmal die Geschichte von «Lektoraten» durch den Vater (oft Auslassungen oder Änderungen aus Gründen vermeintlicher Moral und aus Rücksicht auf die Tochter wie auch auf Leser), was durchaus bekannt ist, dann die Geschichte von ungenauen Übersetzungen aus (Zweit-)Sprachen, von Kämpfen um Bühnenrechte, besonders in den USA. Auf solchen Änderungen fusste auch der wiederkehrende Vorwurf der «Fälschung» aus alt- und neonazistischen Milieus. Was Coronaleugnerinnen unserer Tage freilich nicht hinderte, sich auf offener Bühne Anne Frank gleichzusetzen.
Der Erfolg hat viele Väter
Wem also «gehört» Anne Frank? Diese an sich schon irritierende Frage ergibt sich aus den zahllosen Aneignungen des Tagebuchs, die sich von der eigentlichen Geschichte der jungen Autorin teilweise völlig entfernt haben, ob zeitlich oder geografisch. «Es ist die Frage, welche Deutung des Tagebuchs historisch und moralisch gerechtfertigt ist … Der Erfolg hat viele Väter, gibt aber keine Antwort», schreibt Sparr. Bei näherem Hinsehen breitet sich eine Folge von manchen Misserfolgen, Missverständnissen, Anfechtungen aus.
1955 gelangte das Theaterstück, aus der Feder des Ehepaars Frances Goodrich und Albert Hackett, auf die Bühne in New York und wurde - wohl dank einer schönfrisierten Version dieses Lebens – ein immenser Erfolg. Aus dem jüdischen Mädchen (mit seinem jüdischen Schicksal, der Ermordung, die sie ausklammerten) hatten die beiden amerikanischen Autoren ein allgemein menschliches Schicksal gemacht. Das war der Auftakt zu phänomenalen Verkaufszahlen des Tagebuchs auch in Europa – allerdings nicht überall und nicht von Beginn an. In Deutschland waren es bis 1957 eine halbe Million Exemplare. 1956 war die Übersetzung des Broadwaystücks auch auf deutschsprachige Bühnen gelangt, gleichzeitig uraufgeführt in vielen deutschen Städten, dazu in Zürich und in Wien.
Deutsche Bühnen der Nachkriegszeit waren moralische Anstalten, schreibt Sparr, nicht vergleichbar einer Broadwaybühne oder einem Hollywoodstudio oder einem japanischen Mädchenzimmer, wo das Tagebuch mit grosser Inbrunst einfach als die Geschichte einer Gleichaltrigen mit ähnlichen Problemen gelesen wurde. An deutschen Bühnen bat man die Zuschauer, nicht zu klatschen, nur Ergriffenheit schien angemessen.
Vielseitige Vorworte
Gerade das hat in Deutschland die Verbreitung erlaubt, selbst unter jenen, die ihren Antisemitismus in die Nachkriegszeit «gerettet» hatten. So berichtete Theodor Adorno von einer Zuschauerin, die nach einer Aufführung gesagt haben soll: «Ja, aber d a s Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen.».
Sparr geht all den verschlungenen Wegen der Rezeption nach. So zitiert er etwa Rezensionen aus jenen frühen Jahren, wo von «beglückend und menschlich» bis zu «schön, lebensecht und erschütternd» zu lesen ist. Opfer war man ja auch selber, von Krieg, Bombardierung und Vertreibung. Da hatte man mit Anne Frank etwas gemeinsam und liess sich erinnern an das, was man selber erlitten, nicht daran, was man getan hatte .
Ebenso aussagekräftig waren die Vorworte, die Sparr sich angesehen hat. Als Verlagsmann weiss er natürlich um den Wert einer solchen Quelle. Die Verlage boten Psychologen, Pädagogen, Politiker auf, nicht nur in Deutschland. Sie verwiesen lieber auf die innere Welt des heranwachsenden Mädchens. Sein Schicksal aber und dasjenige aller anderen im Hinterhaus, das blieb im Hintergrund.
Erhellende Dokumentation einer frühen Debatte
Aufschlüsse erlauben auch Schriftsteller und Intellektuelle, die sich mit dem Tagebuch befasst oder es aber ignoriert hatten. Allein schon Anne Franks Jahrgänger wie Christa Wolf, Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf oder Hans Magnus Enzensberger verloren darüber nie eine Zeile. Als ob es nicht als Teil einer «Vergangenheitsdebatte» gesehen werden konnte, an der sie sich ja sonst intensiv beteiligten.
Es sind scheinbare Nebenwege, die diese Lektüre so ergiebig machen. Deshalb ergibt sich fast von selbst, dass Sparr am Schluss auf eine Tagung zum Thema «Deutsche und Juden – ein ungelöstes Problem» von 1966 in Brüssel zu reden kommt. Der Zionistische Weltkongress hatte zu seiner Jahreskonferenz fünf Vortragende geladen: Den deutsch-jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem, die Historiker Golo Mann und Salo W. Baron, den damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmeier sowie Karl Jaspers, der ein Grusswort sandte, das eher eine glasklare Analyse der Schuldfrage war. Als Buch erschienen diese Beiträge erstmals 1967, im Suhrkamp Verlag, und erhielt so gut wie keine Resonanz. Sparr hat es dieses Jahr unter dem Titel «Deutsche und Juden. Dokumentation einer Debatte» zusammen mit Amir Eshel im Suhrkamp Verlag Jüdischer Verlag neu herausgegeben und mit einem hochgescheiten Vorwort versehen. Das ist kein gesuchter Zusammenhang, sondern das Tagebuch Anne Franks und seine Biografie gehören mitten hinein. Es ist dieselbe Geschichte von Missverständnissen, Verdrängung, Auslassung, die hier zu Wort kam, zeitlich parallel zur begeisterten Aufnahme des Tagebuchs.
Thomas Sparr: «Ich will fortleben auch nach meinem Tod». Die Biografie des Tagebuchs der Anne Frank. S. Fischer 2024, 336 S., Fr. 38.90