Viel ist nicht bekannt über den Täter, der in Newtown (Connecticut) über zwei Dutzend Menschen erschossen hat. Doch steht fest, dass der 20-Jährige seine Tat mit halbautomatischen Waffen begangen hat, die in den USA nach wie vor viel zu leicht erhältlich sind.
Schusswaffen - eine Volkskrankheit
Gregory Gibson und seine Frau, deren Sohn Galen am 14. Dezember 1992 im College von einem geistesgestörten Mitstudenten erschossen worden war, befanden sich am Freitagmorgen auf dem Heimweg vom Friedhof, als sie am Autoradio vom Massaker in einer Schule in Connecticut hörten. Den Nachrichten zufolge hatte der 20-jährige Adam Lanza in der Sandy Hook Elementary School in Newtown mit halbautomatischen Pistolen und einem ebenfalls halbautomatischen Sturmgewehr 27 Menschen, unter ihnen 20 Kinder im Alter zwischen fünf und zehn Jahren, erschossen, bevor er sich selbst tötete. Zuvor hatte er bereits seine Mutter umgebracht, die am gleichen Ort wohnte und an derselben Schule unterrichtete.
Er habe, erinnert sich Gregory Gibson in einem Beitrag der „New York Times“, nach dem Tod seines Sohnes ein Buch geschrieben, in welchem er dafür plädierte, Verbrechen mit Schusswaffen, ähnlich wie das Rauchen, als Problem für die Volksgesundheit zu sehen: „Ich habe während mehrerer Jahre Treffen besucht, Petitionen unterschrieben, Briefe verfasst und Reden gehalten, aber mit der Zeit habe ich das alles aufgegeben.“
Das unvermeidliche Lamentieren
Unerklärlicherweise sei das Thema Schusswaffenkontrolle für Politiker viel zu heiss geworden, um sich noch damit zu beschäftigen. Er habe realisieren müssen, folgert der Vater, dass die Menschen in Amerika das so wollten: „Wir wollen unsere Freiheit und wir wollen unsere Schusswaffen, und wenn wir dafür Schiessereien an Schulen in Kauf nehmen müssen, so ist das halt nicht zu ändern. Eine schreckliche Schande, zugegeben – aber hat nicht irgendein Kerl in China mit einem Messer das Gleiche verbrochen?“ - Nur wenige Stunden vor dem Massaker in Newtown hatte in Zentralchina ein Mann mit einem Messer 22 Schuldkinder und einen Erwachsenen verletzt.
Noch schlimmer als die Vorstellung, was die Familien der Opfer in Newtown jetzt und in den kommenden Jahren durchmachen müssten, ist für Gregory Gibson das unvermeidliche Lamentieren, wie so etwas habe passieren können: „Es ist eine so schreckliche Frage, weil die Antwort so einfach ist. Erleichtere es Leuten, Schusswaffen zu erwerben, und solche Dinge werden geschehen.“ Kinder würden weiter für eine Freiheit bezahlen, die ihre Eltern in Anspruch nehmen.
Verdrehte Argumente
Indes zeigen Amerikas Erwachsene auch nach der letzten Tragödie nur wenig Einsicht, das Thema der Schusswaffenkontrolle rational anzugehen. Gegner verschärfter Massnahmen warnten umgehend, das Massaker in Newtown dürfe nicht „verpolitisiert“ werden. Larry Pratt, der Direktor der Vereinigung amerikanischer Schusswaffenbesitzer, verstieg sich laut der Website „ThinkProgress“ gar zur ungeheuerlichen Behauptung, Befürworter rigideren Kontrollen hätten das Blut kleiner Kinder an ihren Händen: „Gesetze des Bundes und der Einzelstaaten trugen zusammen dazu bei, dass kein Lehrer, kein Administrator, kein Erwachsener in der Schule in Newtown, wo die Kinder ermordet wurden, eine Schusswaffe besass. Diese Tragödie unterstreicht die Dringlichkeit, Schusswaffenverbote in Schulzonen aufzuheben.“
Larry Pratt weiss eine Mehrheit seiner Landsleute hinter sich. Einer Gallup-Umfrage zufolge ist die Zahl der Befürworter verschärfter Schusswaffenkontrollen zwischen 1991 und 2011 um 40 Prozent gefallen. Erstmals sprach sich im vergangenen Jahr mit 53 zu 43 Prozent auch eine Mehrheit der Amerikaner dagegen aus, halbautomatische Waffen oder Sturmgewehre zu verbieten. Der Killer in Newtown schoss aus halbautomatischen Waffen - gezielt, wiederholt und aus nächster Nähe. Wobei die Tatwaffen ersten Angaben der Polizei zufolge auf die Mutter des Täters eingetragen waren.
Waffen populärer denn je
Einer Krankenschwester, die unweit der Schule wohnt und zum Tatort eilte, nachdem sie am Fernsehen von der Schiesserei gehört hatte, beschied ein Polizist, es brauche keine medizinische Hilfe mehr: „So wusste ich unmittelbar, dass etwas Schlimmes passiert war.“ Lediglich eines der Kinder in den zwei betroffenen Klassenzimmern der Schule überlebte mit Verletzungen.
Auch Nate Silver, der durch seine exakten Wahlprognosen berühmt gewordene Blogger der „New York Times“, stellt fest, dass sich in Amerika der öffentliche Diskurs zum Thema Schusswaffen in jüngerer Vergangenheit verändert hat. Anhand von Inhaltsanalysen von Zeitungsartikeln folgert er, dass heute, anders als früher, statt von „Schusswaffenkontrolle“ häufiger vom „Recht auf Schusswaffen“ und vom zweiten Zusatz zur amerikanischen Verfassung („Second Amendment“) die Rede sei.
Der Verfassungszusatz schreibt das Recht auf Waffentragen fest und auf ihn berufen sich Gegner verschärfter Kontrollen. Deren Strategie, zur Verteidigung ihres Standpunkts stets die Verfassung zu bemühen, sei unter Umständen aufgegangen, folgert Silver. Die Befürworter des freien Zugangs zu Schusswaffen argumentieren ferner, nicht Waffen würden Menschen töten, sondern andere Leute: „Not guns kill people, people kill people“. Nachdem im vergangenen Juni ein Killer in einem Kino in Aurora (Colorado) zwölf Menschen erschossen hatte, stiegen im Staate „background checks“ von Waffeninteressenten um 41 Prozent an.
Die typischen Täter
Zwar sollten in den USA Käufer von Schusswaffen auf Vorstrafen und auf Geisteskrankheiten hin geprüft werden. Doch lassen Verkäufer erfahrungsgemäss nicht immer die nötige Vorsicht walten. Laut einer Studie des linksliberalen Monatsmagazins „Mother Jones“ vom letzten Juli haben in den USA mehr als drei Viertel der Killer in den vergangenen 30 Jahren in Fällen von Massakern ihre Waffen legal erworben. Unter den 139 Schusswaffen, aus denen sie dabei schossen, befanden sich Dutzende von Sturmgewehren und halbautomatischen Pistolen.
Knapp die Hälfte der Schiessereien ereignete sich entweder in Schulen oder am Arbeitsplatz, die übrigen in Einkaufszentren, Restaurants, Kinos, Regierungsgebäuden und auf Militärbasen. 43 der 62 meist allein handelnden Täter waren weisse Männer, im Schnitt 35 Jahre alt (obwohl auch ein 11-Jähriger zur Waffe griff). Lediglich eine Frau ist seit 1982 zur Massenmörderin geworden. 30 von 50 Bundesstaaten von Massachusetts bis Hawaii waren von den Morden betroffen. Einer Definition der Bundespolizei (FBI) zufolge gilt als Massenmörder, wer bei einem einzigen Vorfall mindestens vier Menschen tötet.
„Unsere Herzen sind gebrochen.“
Gleichzeitig zeigen Untersuchungen, dass in Amerika Massaker an Schulen statistisch gesehen äusserst selten sind. Gemäss Amanda B. Nickerson, die an der Universität in Buffalo (New York) über Gewalt an Schulen forscht, sind die Lehrstätten des Landes relativ sicher und ist es wahrscheinlicher, dass Kinder ausserhalb der Schule ums Leben kommen. Doch, sagt Nickerson, ein Vorfall wie jener in Newton wecke tiefsitzende Ängste: „Wann immer so etwas geschieht, sagen die Leute, es sei eine Epidemie, aber das stimmt einfach nicht.“ Experten warnen denn auch davor, Schulen in Hochsicherheitstrakte zu verwandeln. Adam Lanza gelang es, in die Sandy Hook Elementary School einzudringen, weil die Schulvorsteherin, die er ebenfalls erschoss, ihn als Sohn einer Kollegin erkannte und die gesicherte Türe öffnete.
Zwar hat sich Barack Obama nach dem Massaker in Newtown in einer emotionalen Rede an die Nation gewandt und betont, er reagiere nicht in erster Linie als Präsident, sondern als Vater: „Unsere Herzen sind gebrochen.“ Diese Kinder, sagte er, Tränen unterdrückend, hätten noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt: „Geburtstage, Schulfeiern, Hochzeiten, eigene Kinder.“ Ohne sie näher zu definieren, forderte Obama „griffige Massnahmen“, um weitere Tragödien zu verhindern – „ohne Rücksicht auf die Politik“.
Angst vor der Waffenlobby
In seiner ersten Amtszeit aber hat der Präsident nur wenig unternommen, um verschärfte Schusswaffenkontrollen etwa in Form eines Verbots halbautomatischer Sturmgewehre durchzusetzen.
Etliche seiner Wähler hoffen nun, Barack Obama werde in seiner zweiten Amtszeit mutiger agieren und endlich die nötigen Schritte unternehmen - auch gegen den mutmasslich erbitterten Widerstand des Kongresses. Dessen Mitglieder fürchten mit wenigen Ausnahmen die Waffenlobby wie der Teufel das Weihwasser, weil sie ihre Wiederwahl gefährdet sehen, falls sie der Vernunft nachgeben und endlich strengere Massnahmen beschliessen.
Mangel am Führung
Befürworter einer verschärften Schusswaffenkontrolle wie New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg zeigten sich indes von den Äusserungen des Präsidenten enttäuscht. „Allein griffigere Massnahmen zu fordern, genügt nicht“, sagte Bloomberg: „Wir müssen umgehend reagieren.“ Leere Rhetorik, so der Bürgermeister, habe er zur Genüge gehört: „Was wir aber nicht gesehen haben, ist Führung - weder im Weissen Haus noch im Kongress. Das muss heute enden.“
Letztlich, schreibt Greg Sargent in der „Washington Post“, liege es an jenem einzelnen Amerikaner, sicherzustellen, dass die allgemeine Forderung nach konkreten Schritten in Sachen Schusswaffenkontrolle in Druck bezüglich realer, konkreter Lösungen münde: „“Wenn das heutige Massaker nicht ausreicht, dass sich etwas ändert, dann wird nie etwas genügen.“
Quellen: „The New York Times“; „The Washington Post“; „Mother Jones“; „ThinkProgress“