Der Titel klingt eher beiläufig. Aber die Bilder und die Texte dieses Bandes öffnen die Augen dafür, wie essentiell die Pässe für die Schweiz in ihrer Geschichte und Gegenwart sind. Sie enthalten den Schlüssel zum Verständnis dieses Landes. Die Schweiz ist tatsächlich das Land der Pässe.
Diesen Schlüssel muss man allerdings erst einmal finden. Es ist gut und richtig, die Pässe immer wieder zu befahren, auf ihnen zu wandern und an Aussichtspunkten anzuhalten. Ihre wirkliche Bedeutung kann man dabei erahnen, vielleicht erspüren, aber nicht wirklich erfassen. Das war auch der Eindruck von Richard von Tscharner, der im Jahr im September 2016 im Alter von 69 Jahren spontan die Eingebung hatte, die Alpenpässe zu seinem fotografischen Thema zu machen.
Kämpfe und Spiritualität
Tscharner hat in seinem Leben einiges unternommen. Ursprünglich war er Bankier in Genf. 2006 zog er sich aus der Finanzwelt zurück. Als Fotograf bereiste er die Welt und hat mit seinen Fotos beachtliche Resonanz gefunden. Er geht stets gründlich zu Werke, und als er auf die Idee zu einem Bildband über die Alpenpässe kam, hat er als Erstes recherchiert, was es denn schon an Werken über dieses Thema gibt. Zu seiner Überraschung fand er keine einschlägige Darstellung. Aber er kannte den Literaten, Philosophen, Religionswissenschaftler und nicht zuletzt Fotografen Frédéric Möri, der sich bereit fand, ihn zu begleiten und die historischen Hintergründe zu erklären.
Tscharner erkundete nun mit seiner Kamera die Pässe in ihrer kargen Landschaft, Möri erklärte ihm die historischen Zusammenhänge, und auf die Weise sind Bilder und Texte von grosser Eindringlichkeit entstanden. In dem Band hat Tscharner zwei Fotostrecken untergebracht: Die erste ist schwarzweiss, die zweite farbig. Die Schwarzweissbilder hat Tscharner so gefiltert, dass dunkle Grautöne überwiegen und jedes einzelne Bild daran erinnert, wie mühsam es einmal gewesen sein muss, diese Passagen in die unwirtliche Gebirgslandschaft einzubringen.
Diese Pässe waren immer auch mit Kämpfen verbunden. Und das Faszinierende an diesem Band besteht in den Schilderungen mehrerer Autoren, welche Rolle diese Pässe von den ersten Anfängen der Schweiz bis in die Gegenwart für das Gemeinwesen, aber auch für die Mentalität der Schweizer gespielt haben. Und sie waren auch Orte der Spiritualität. Ein Kapitel ist diesem Wesenszug der Pässe gewidmet; die «Hospize» erinnern bis heute daran. Sie wurden von geistlichen Gemeinschaften errichtet.
Unter den zahlreichen spektakulären Pässen spielt der Gotthard eine herausragende Rolle. Das gilt nicht nur in dem Sinne, dass sich in seinem Einzugsbereich die Urkantone bildeten. Er war auch die Hauptverbindung zwischen dem Norden und Italien. Goethe hat ihn ebenso überquert wie Schiller, der, wie in dem Band erwähnt wird, bei seiner Reise über den Gotthard die Geschichte von Wilhelm Tell hörte und daraus seine Dichtung machte, ohne die die Schweiz bis heute nicht auskäme.
Dramatische Geschichten
Mit dem Gotthard verbinden sich zwei dramatische Geschichten, die bis heute niemanden unberührt lassen können. Da ist einmal die Geschichte des Baus des Gotthard-Eisenbahntunnels in den Jahren von 1872 bis 1882. Die Protagonisten dieses Baus waren der Ingenieur Louis Favre und der Unternehmer Alfred Escher. Sie gewannen eine Ausschreibung und wurden mit dem Bau beauftragt. Es zeigte sich aber, dass die Bauausführung auf weitaus mehr Tücken und Schwierigkeiten stiess, als man angenommen hatte. Der Bau dauerte wesentlich länger als geplant und die Kostenüberschreitungen waren dramatisch. Favre starb 1879 bei einer Begehung der Baustelle an Erschöpfung. Ausser ihm verloren 199 Arbeiter, überwiegend Italiener, bei den Arbeiten ihr Leben. Zur festlichen Einweihung des Gotthardtunnels wurde Etter nicht einmal mehr eingeladen.
In den Jahren von 2005 bis 2010 wurde ein neuer Tunnel, der Gotthard Basistunnel, gebaut. Mit seinen 57 Kilometern ist er der längste Eisenbahntunnel der Welt.
Die zweite dramatische Geschichte hängt mit der Verteidigung der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zusammen. Führende Militärs hatten schon vor der akuten Bedrohung durch Nazideutschland erkannt, dass sich die Schweiz gegen eine überlegene Armee in der Fläche kaum verteidigen lässt. Als Deutschland mit der Niederwerfung Frankreichs und aufgrund seines Bündnisses mit Italien zur akuten Bedrohung wurde, übernahm der charismatische Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, Henri Guisan, das sogenannte Réduit-Konzept. Dies bestand darin, dass sich ein Teil der Armee in Alpenfestungen entlang der Pässe verschanzte und im Falle eines Angriffs diese Pässe allesamt unpassierbar machen würde.
Das Réduitkonzept
Dieses Konzept ist oft belächelt worden, aber in dem Band über die Alpenpässe wird die Logik noch einmal verdeutlicht: Ohne den Gotthardpass wäre die direkte Verbindung zwischen Deutschland und Italien unterbrochen gewesen, Umfahrungen ebenso. Für die Angreifer wäre das ein hoher Preis gewesen, zumal auch andere Vorteile im Austausch mit der neutralen Schweiz weggefallen wären. Aber die Soldaten in den Bergen hätten im Ernstfall die Umsetzung des Réduitkonzepts mehrheitlich mit dem Leben bezahlt, denn die Sprengung aller Brücken und Zufahrtswege hätte auch ihnen den Rückzug abgeschnitten.
Eindrücklich ist die Karte zum Réduitkonzept, die sich im Anhang neben weiteren historischen Karten befindet. Und überhaupt sind in dem Band neben den Fotos von Tscharner zahlreiche historische Abbildungen enthalten, deren hilfreiche Bildlegenden ebenfalls im Anhang zu finden sind.
Richard von Tscharner hat sich nach seinem spontanen Einfall, einen Bildband von den Alpenpässen zu erstellen, auf eine vielschichtige Reise begeben. Zum Vergnügen und Gewinn des Lesers.
Land der Pässe. Eine Zeitreise in die heutige Schweiz. Herausgegeben von Richard von Tscharner, Fondation Carène, 2023. Gebunden, 264 Seiten, 50 farbige und 74 s/w-Abbildungen.
Scheidegger & Spiess, Zürich 2023, 79 CHF