In der EU ist alles ein bisschen anders, komplizierter. „Spalten“ heisst hier nicht, dass sie in zwei Teile auseinanderfällt. Es heisst, dass in ihr ein Kern von Ländern schneller vorangeht als die andern, aber mit diesen zusammen EU-Mitglieder bleiben.
Einem guten Drittel der 27 EU-Länder geht der Prozess der europäischen Einigung in der EU nach zwanzig Jahren Stagnation plötzlich zu langsam. Angetrieben von der Krise des Euro, der zu seiner Rettung mehr europäische Aufsicht und Vereinheitlichung verlangt, haben sie mit einiger Verzögerung erkannt, dass das nicht auf die Finanzsektoren beschränkt werden kann. Die Schaffung einer Banken-, einer Steuer- und Budget-Union erfordert auch Beschlüsse auf politischer, also auf EU-Ebene. Die Elf wollen die EU stärken, ihr Kompetenzen für neue Politiken geben, sie wollen mehr Mehrheitsabstimmungen statt der Einstimmigkeit, die jedem Mitgliedstaat das lähmende Vetorecht gegen viel Wünschbares verschafft, und mehr demokratische Aufsicht über das alles. Eine auf den Finanzsektor beschränkte Reform hinge windschief in der Luft. Sie muss von einer Reform der EU-Struktur begleitet werden.
Doch auf EU-Ebene beschliessen zehn Länder mit, die nicht in der Währungsunion sind oder den Euro gar wie Grossbritannien scheuen. Viele sind mit dem heutigen halbfertigen Zustand der EU-Integration zufrieden. Sie zögern, bremsen oder wollen nicht über den Status quo hinausgehen. Jetzt aber hat unter mutigeren und einflussreichen EU-Ländern eine Welle begonnen, welche die Integration höher treiben will, und nicht nur wegen des Euro sondern überhaupt. Diese Stürmer wollen sich von den Bremsern nicht mehr bremsen lassen.
Noch nie gesehen
Das wird, wenn es gelingt, zu einem Nebeneinander von schnelleren und langsameren EU-Mitgliedern führen mit teils gemeinsamen, teils unterschiedlichen Regeln und Institutionen. So etwas hat man in sechzig Jahren EG-EU noch nie gesehen. Achtung, das ist nicht zu verwechseln mit bisherigen Trennungslinien wie der Nichtübernahme des Euro und Schengenlands durch England: Solche Besonderheiten hat die EU immer nur als provisorische Ausnahmen von der EU-Teilnahme akzeptiert, welche so schnell wie möglich wieder abgeschafft werden müssten. Jedermann in Brüssel weiss, dass diese Hoffnung illusorisch ist, aber aus Angst vor echter Spaltung wurde bisher an dieser Fiktion festgehalten und nie toleriert, dass sie in verschiedene Institutionen mündete. Das wäre diesmal der Fall, denn wahrscheinlich wird jetzt eine Scheidung in zwei oder mehrere Gruppen von EU-Ländern mit unterschiedlichen Regeln, Rechten und Kompetenzen stattfinden. Die Verhandlungen darüber werden wohl einige Jahre dauern, denn viele Länder werden die Gelegenheit benützen und für nationale Anliegen weitere Vertragsrevisionen postulieren, und bevor alle über alles einig sind, gibt es keine Reform. Doch so etwas war bisher undenkbar. Inmitten der EU würden die fortschrittlicheren Länder eine Kerntruppe bilden, welche die „immer engere Union der Völker Europas“ (Präambel der EU-Verträge) schneller vorantreibt als die anderen: Sie sind bereit, sich anspruchsvolleren Harmonisierungen und strengeren Beschlussregeln zu unterziehen.
Immer schneller
Seit wenigen Monaten kommen solche Vorstösse aus vielen Ecken in immer schnellerem Rhythmus, ich habe die ersten aufgezählt in „Lichtblicke – eine proeuropäische Wende?“ Journal21, 25.September 2012. Im Sommer suggerierte der belgische EU-Gipfel-Präsident Van Rompuy separate Institutionen der 17 Euro-Länder, um den Euro zu retten. Anfang September propagierten die europapolitischen Altmeister Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing im „Spiegel“ die Trennung der Euro-Länder von der grösseren EU. Und plötzlich gehen die Reformvorschläge über die Euro-Krise und ihre finanzpolitische Bewältigung weit hinaus ins Politische, in eine grundlegende Reform der EU als solcher:
Vereinigte Staaten von Europa?
Am 11. September ruft EU-Kommissionspräsident Barroso die EU-Länder zur Bildung einer „Föderation von Nationalstaaten“ auf. Das Wort „Föderation“ entschlüpft plötzlich wie „Bundesstaat“ und „Vereinigte Staaten von Europa“ (Giscard) seinem Tabu. Am 17. September veröffentlicht eine Gruppe von elf EU-Mitgliedern, die auch zwei Nicht-Euro-Länder umfasst, ein zwölfseitiges Dokument, das nebst Revisionsvorschlägen für die Lösung der Euro-Krise revolutionär klingende Postulate enthält, die nur mit Änderungen der alles bestimmenden EU-Verträge verwirklicht werden können: mehr Mehrheitsbeschlüsse, mehr Rechte des EU-Parlaments, ein „Ständerat“ der Mitgliedsländer neben dem EU-Parlament, eine Stärkung der EU-Kommission und ihres Präsidenten, eine gemeinsame Aussen- und Verteidigungspolitik, die einige bis zum Zusammenschluss ihrer Streitkräfte zu einer europäischen Armee treiben wollen.
Ein Paukenschlag aus London
Aber alles das drohten folgenlose Glasperlenspiele zu bleiben, wenn nicht am 8. Oktober ein befreiender Paukenschlag aus London gekommen wäre. Alle derartigen Bemühungen scheiterten bisher am Veto der Engländer. Sie sind der EG 1973 nur beigetreten, weil sie fürchteten, als Nichtmitglied an den Rand der Europapolitik gedrängt zu werden, und seither bremsten sie ihre politischen Ambitionen soviel sie konnten und versuchten sie auf eine Freihandelszone zu reduzieren. Da grössere Reformen Einstimmigkeit erfordern, konnten sie alles verhindern, was ihnen nicht passte.
Die jetzt von der Elfergruppe angestrebte Stärkung der EU passt ihnen immer noch nicht, aber in einer Kehrtwendung um 180 Grad hat sie ein britischer Premierminister akzeptiert und sogar willkommen geheissen – WENN: dieses „wenn“ verändert die Grundstruktur der EU! – wenn Grossbritannien dabei nicht mitmachen muss und die Bedingungen seiner EU-Mitgliedschaft gelockert werden. David Cameron hat den Briten eine Volksabstimmung darüber versprochen, falls sie ihn 2015 wieder wählen. Und gegen diese Ziele wird die Opposition wohl nicht opponieren, denn die Labour-Partei ist ebenso EU-skeptisch wie die Konservativen,. Daran wird höchstens Camerons Koalition zerbrechen, denn seine Partner, die Liberaldemokraten, sind konsequent proeuropäisch.
Zum ersten Mal seit 1973 würde sich England mit einer Seitenrolle im europäischen Konzert begnügen. Die EU ist selber als solche Sondergruppe entstanden: Ohne ihn zu verlassen, emanzipierten sich ihre sechs Gründungsmitglieder 1952 aus dem Europarat, der die nach Hitler, Holocaust und Weltkrieg dringend nötige Einigung Europas mit seinen zahnlosen Resolutionen nicht voranbrachte. Die Sechs gaben sich Beschlussmechanismen, die gewaltige Vereinheitlichungen zuwege gebracht haben, wie den Binnenmarkt und seine Begleitpolitiken. Diese Sechser-Emanzipation hat einundzwanzig weitere Länder angezogen und Europa den kontinentalen Frieden gebracht, den jetzt der Nobelpreis 2012 krönt.
Die EU wird umgepflügt
Dieser Synkopentakt der Einigung Europas durch Vorstösse von mutigeren Ländern, die mit den zögernden weiter in der gleichen Gemeinschaft bleiben, wiederholt sich nun auf höherer Ebene. Sechzig Jahren lang hatten alle EU-Mitglieder gleiche Pflichten, Rechte, Mitbestimmung und Regeln und die gleichen Einschränkungen ihrer Souveränität. Jetzt würden inmitten der EU zwei oder sogar, wenn England Sonderrechte bekommt, drei Ländergruppen mit unterschiedlichem Integrationsrhythmus entstehen: Die EU wie sie jetzt ist - darin vielleicht ein Grossbritannien mit noch weniger Pflichten - und eine voranstürmende Gruppe von elf Ländern. Oder mehr, denn die Elf haben alle anderen zum Mitmachen eingeladen. Seit dem Einlenken Camerons ist dieses Umpflügen der EU-Struktur politisch möglich und wahrscheinlich geworden.
Wie um die grosse Wende zu krönen, haben am 9.Oktober elf andere EU-Staaten um die Bewilligung zur Bildung einer steuerpolitischen Sondergruppe ersucht: Sie wollen separat die umstrittene Steuer auf Börsengewinne einführen. Es sind teils die gleichen, teils andere Mitglieder der erwähnten Elfergruppe – damit würde in der EU noch eine Sondergruppe mehr entstehen. Aber die EU wäre nicht die EU, wenn alle den gleichen Status hätten. Diese zweite Gruppe will, da England kategorische Opposition angemeldet hat, ihr Ziel ohne Änderungen unter den Regeln der gültigen EU-Verträge erreichen. Sie erlauben nämlich eine „verstärkte Zusammenarbeit“: Eine Minderheit von mindestens neun EU-Ländern darf EU-verträgliche Sondervorschriften vereinbaren, wenn dem die qualifizierte Mehrheit der 27 EU-Mitglieder zustimmt. Näheres darüber ein andermal. Die EU ist wirklich kompliziert.