Das war’s. Die Notenblätter sind eingepackt. «Gustav Mahler Symphonie Nr. 9 D-Dur» steht vorne drauf. Aber für das Symphonieorchester Vorarlberg war es kein Konzert wie jedes andere. Dieses Konzert ist verbunden mit Stolz, mit viel Einsatz und jetzt wohl auch mit etwas Wehmut. Denn kein Geringerer als Kirill Petrenko hat das Orchester geleitet, einer aus der absoluten Spitzengruppe unter den gegenwärtigen Dirigenten. Mit der neunten Sinfonie hat Petrenko einen Mahler-Zyklus abgeschlossen, der sich über einen Zeitraum von zwölf Jahren hingezogen hat. Mit einem mulmigen Gefühl hatte Mahler die 9. Sinfonie 1909 in einem abgeschiedenen «Komponierhäusl» in Toblach in Südtirol geschrieben. Viele Komponisten waren nach der Vollendung ihrer Neunten gestorben. Und auch Mahler erlebte die Uraufführung seiner Neunten im Jahre 1912 nicht mehr. Er starb ein Jahr zuvor.
Die letzten Konzerte des Mahler-Zyklus’ unter Petrenko fanden nun mit einer fulminanten Aufführung der 9. Sinfonie in Bregenz statt, das allerletzte am Sonntag in Feldkirch. Und ein bisschen darf man sich schon wundern, wie diese Mahler-Konzerte überhaupt zustande gekommen sind. Petrenko selbst war es, der vor mehr als zwölf Jahren an einem Sonntagnachmittag beim Symphonieorchester Vorarlberg anrief, nachdem er im Radio eine Aufnahme des Orchesters gehört hatte. Dieser Klang würde gut zu Mahler passen, meinte er, und schlug einen Mahler-Zyklus vor. Das war 2008, und Petrenko, damals gerade zum «Dirigenten des Jahres» ernannt, meinte es ernst mit den Vorarlbergern.
Petrenko, wie vor dreissig Jahren
Nachdem Kirill als Jugendlicher mit seinen Eltern, die beide auch Musiker waren, aus Omsk in Russland nach Vorarlberg gekommen war, besuchte er in Feldkirch das Konservatorium, später die Musikuniversität in Wien. Vorarlberg ist seither ein bisschen Heimat für ihn geblieben. Und im Symphonieorchester spielen noch immer einige Musikerinnen und Musiker mit, die Petrenko noch vom Konservatorium her kennen. Einer von ihnen ist der Geiger Markus Ellensohn. Obwohl seither so viel Zeit vergangen ist und obwohl Kirill Petrenko sich inzwischen an die Weltspitze dirigiert hat und seit zwei Jahren Chefdirigent der Berliner Philharmoniker ist, sieht Markus Ellensohn immer noch den Kirill vor sich, mit dem er einst studiert hat. «Ich kann keine Veränderung feststellen. Er ist immer noch ‘unser Kirill’, den wir vor dreissig Jahren kennengelernt haben. Und er ist auch immer noch der ‘Arbeiter’, der Primus inter Pares, der sich als Teil des Orchesters sieht, als Teamplayer.» So wie früher als Student am Konservatorium, als er mit der Partitur unterm Arm und der Musik im Kopf herumlief, wenn andere schon beim Feierabend-Bier sassen. «Ich glaube, er ist ein lebenslanger Lerner und Studierer», sagt Ellensohn, «und von seinem Wissen dürfen auch wir profitieren, denn er behält es ja nicht für sich.» Das Orchester schätzt Petrenkos Arbeit und auch seine trockene Art. «Es gibt kein überflüssiges Gespräch. Er kommt auf die Probe, sagt knapp ‘Beginn’ und wir spielen eine Sekunde später. Die Zeit für die Begrüssung wird eingespart, weil die Zeit kostbar ist. Es geht nur darum, das Bestmögliche zu erreichen. Und wenn er sagt, es war gut, wie das Orchester gespielt hat, dann waren wir wirklich gut.»
Mahler-Kurs fürs Orchester
Eines ist klar: «Wir haben keine Sonderrolle, weil wir mir Kirill freundschaftlich verbunden sind», sagt Markus Ellensohn. «Er ist bei der Arbeit ganz unnachgiebig. Er möchte auch mit uns das erreichen, was er mit jedem Orchester erreichen möchte. Er lässt uns nichts durchgehen. Er hat klare Vorstellungen und da gibt es viel zu tun. Er lobt manchmal, wie weit wir gekommen sind, aber im gleichen Atemzug sagt er, es gibt noch was zu tun. Und dann wird weiter gearbeitet … Die Spielweise von Mahler, die vielen Details, die es in dieser Musik gibt, das war für uns wie ein Mahler-Kurs während all der Jahre. Man hat das Gefühl, Kirill kennt den Komponisten und die Zeit damals so genau, wie es überhaupt nur möglich ist. Er weiss, was Mahler sich gedacht hat oder warum er es so geschrieben hat oder wieso der Strich vom Komponisten so kompliziert eingetragen wurde. Das sind Erklärungen, die man braucht, um etwas zu verstehen und beim Spielen nachzuvollziehen, auch wenn es ganz verrückte Dinge sind.»
Es liegt was in der Luft
So hat sich auch das Symphonieorchester Vorarlberg während dieser zwölf Jahre ständig weiterentwickelt durch die regelmässige Arbeit mit Petrenko. Es war ein Glücksfall, obwohl man ja nie wusste, ob es wirklich bis zur neunten Sinfonie klappt. Während all der Jahre ist Petrenkos Aufstieg steil nach oben gegangen, aber seine Vorarlberger Kollegen hat er nicht im Stich gelassen und Wort gehalten. Dass die Konzerte während der ganzen Zeit die Highlights des Jahres für die Vorarlberger waren, versteht sich fast von selbst. Und dass man da auch ein bisschen in die Zukunft blinzelt, ist auch klar. «Also Kirill ist ja noch sehr verwurzelt mit Vorarlberg», sagt Markus Ellensohn. «Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass dies nun der Endpunkt unserer Zusammenarbeit war. Vor allem nach diesen letzten Konzerten, an denen er selbst so glücklich war.» Und ein bisschen was liegt auch schon in der Luft: «Im Spass hat er mal gesagt, wir könnten ja einen Haydn-Zyklus beginnen …», erzählt Ellensohn und lacht, denn Haydn, das könnte ein unendlich langer Zyklus werden. «Wir wären jedenfalls alle sehr dafür», sagt er und lacht noch strahlender. Und dann ernsthafter: «Vielleicht hat Kirill schon Ideen. Ich könnte mir schon vorstellen, dass auch ihm etwas daran liegt, dass es weitergeht. In welcher Form auch immer …»
Das kann sich auch das Publikum vorstellen, nach diesem Konzert. Denn während Petrenko während der Proben sachlich dirigiert, spart er sich die Emotionen fürs Konzert auf. «Da wird Kirill dann zum Turbo …, dann kommt ein Lächeln auf sein Gesicht und seine ganze Energie fliesst ins Konzert», sagt Markus Ellensohn. Und dieses Strahlen überträgt sich schliesslich auch aufs Publikum in Bregenz und Feldkirch. Der Applaus am Schluss war heftig und herzlich. Und er sollte wohl sagen: Bitte weiter so.