Ich habe kürzlich die Autobiografie von Eric Kandel gelesen, Psychologe und Neurowissenschaftler, der für seine Untersuchungen über das menschliche Gedächtnis im Jahr 2000 mit dem Nobelpreis geehrt worden ist (1). Erich Kandel wurde 1929 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. Am 9. November 1938, zwei Tage nach seinem neunten Geburtstag, hämmerten Fäuste an die Wohnungstür der Familie. Zwei Männer verhafteten den Vater und zwangen die Mutter und ihre beiden Söhne, innerhalb von Minuten die Wohnung zu verlassen und sich an einer bestimmten Adresse einzufinden. Als die Mutter mit den Kindern einige Tage später in die Wohnung zurückkam, war diese vollständig geplündert.
Der Vater kam später wieder frei. Es gelang den Eltern, für ihre zwei Söhne Tickets für eine Überfahrt nach den USA zu kaufen. Später konnten auch die Eltern vor den Nazis fliehen. Ab 1939 lebte die Familie in New York. Auch wenn sich der junge Erich fortan Eric nannte, die Erinnerungen an jene Tage in Wien hatten sich unauslöschlich in seinem Gedächtnis festgesetzt. Im College setzte er sich intensiv mit der österreichischen und deutschen Geschichte auseinander, schrieb Arbeiten über die Reaktion deutscher Schriftsteller auf den Nationalsozialismus und begann sich für die Freud’sche Psychoanalyse zu interessieren.
Psychologie war damals in den USA noch kein eigenständiges Fach; die meisten Psychoanalytiker hatten Medizin studiert. Auch Eric Kandel begann ein Medizinstudium. Im Jahre 1953, während seines ersten Studienjahres, wurde die Struktur der DNA entdeckt. Kandels Frage, wie es zu erklären ist, dass sich seine persönliche Erinnerung an die Kristallnacht in Wien untilgbar in seinem Gedächtnis eingenistet hat, erhielt dadurch eine neue Richtung, die ihn im Laufe der Zeit immer weiter weg von der Psychoanalyse hin zur Neurobiologie führte. Es gelang ihm, zusammen mit andern Wissenschaftlern, im Laufe seiner Forschertätigkeit die biochemischen Abläufe in den Neuronen (den Zellen des Gehirns), welche für das Gedächtnis verantwortlich sind, zu identifizieren.
Wir sind nicht Herr unserer Erinnerungen, schon gar nicht derjenigen, die sich im Unbewussten festgesetzt haben. Erinnerungen an Schreckliches können zum Trauma werden, doch ohne Erinnerung wären auch die schönen Seiten unseres Lebens verloren. Etwas vom Wichtigsten, unsere Persönlichkeit, unser Bewusstsein und unser Wissen um dieses Bewusstsein, gäbe es nicht.
Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich an einem jener wenigen sonnigen Tage unseres verregneten Novembers in Buchberg aus dem Bus steige. Unterhalb der Kirche, durch die gelb verfärbten Reben sichtbar, fliesst der Rhein und aktiviert in meinem Gehirn jene synaptischen Schaltkreise, welche den Geruch des Wassers mit dem Geräusch der gegen die Schiffswand schlagenden Wellen und mit einer ganzen Landkarte der europäischen Wasserstrassen verbinden.
Haben mich meine Synapsen an den Rhein getrieben wie schon vor einem knappen Jahr, als ich meinen ersten Beitrag für die Rubrik „Unterwegs“ schrieb? – Vielleicht haben sie auch eine Rolle gespielt, aber eigentlich war es Ueli, ein Berufskollege, mit dem ich während Jahrzehnten an der Eawag, dem Wasserinstitut des ETH-Bereichs lehrte und forschte, der für eine gemeinsame Wanderung das Flaachertal, wo er seit vielen Jahren wohnt, vorgeschlagen hat. Wir treffen uns oben in Buchberg, steigen dann durch die Rebberge nach Rüdlingen hinunter zum Schiffssteg, der – wie ich auch – auf den nächsten Frühling wartet. Das Wasser des Rheins fliesst heute ziemlich rasch zwischen den steilen, bewaldeten Abhängen von Irchel und Buchberg dahin, als ob auch es die Sehnsucht nach der Unendlichkeit des Meeres spüren würde. Ich kann nicht anders als mir für einen Augenblick vorzustellen, ich sässe an Deck der Solveig VII und würde mein Schiff flussaufwärts durch die Strudel dem Landungssteg entgegen steuern.
„Hier gehe ich im Sommer gerne schwimmen“, ruft Ueli dem Träumer zu und zeigt auf das gegenüberliegende Ufer unter dem Ebersberg. Und schon ist meine Vision vorbei wie ein auf dem Wasser dahingleitendes Schaumkrönchen. Wir wenden uns flussaufwärts zur Brücke. Auf der andern Seite des Flusses weist ein grosses Plakat darauf hin, dass hier am Ebersberg einst die grösste militärische Festung des Kantons Zürich gebaut worden ist. Noch immer gibt es im Berg ein Labyrinth von Gängen und Bunkern, welche die Militärhistorische Stiftung des Kantons Zürich möglichst im Originalzustand bewahren will. Besonders stolz scheint man darüber zu sein, dass die Festung sogar auf einer sowjetischen Generalstabskarte der Schweiz eingezeichnet war.
Doch unser Sinn steht heute nicht nach Bunker. Bei der Ziegelhütte überqueren wir die Strasse gegen Norden und steigen ins Flaacher Feld hinunter, das teilweise unter dem Niveau des Rheins und der Thur liegt und durch einen Damm von den beiden Flüssen geschützt wird. Vorbei am Naturzentrum Thurauen – auch dieses bereits im Winterschlaf – und an einem leeren Zeltplatz wandern wir rheinaufwärts. An einem meterdicken Baum haben sich offenbar Biber versucht, aber auf halbem Weg aufgegeben und eine Höhle im Stamm zurückgelassen. Ob der Baum das überleben wird?
Der Rhein macht unterhalb der Einmündung der Thur eine langgezogene Linkskurve. Das rechte Ufer ist hier durch eine massive Verbauung vor der Thur, welche bei Hochwasser eine grosse erosive Wirkung entfaltet, geschützt. Dahinter liegen Stillwasser, ein wahres ökologisches Paradies, meint Ueli.
Beim Thurspitz endet der Uferweg. Eine teilweise eingeknickte Holzbrücke führt in den Auenwald. Sie ist wegen Einsturzgefahr gesperrt, aber die störrischen alten Männer setzen sich über das Verbot hinweg und wandern, wie durch einen Lawinenhang in genügendem Abstand, durch die lichte Aue zurück auf den Dammweg. Den Thurhof lassen wir rechts liegen, überqueren die Strasse zwischen Flaach und Ellikon, wandern einem Weiher entlang und gelangen schliesslich an den Rand des Flaacher Industriegebiets, wo eine Baufirma ihre Maschinen zur Parade aufgestellt hat. Etwas östlich davon erreichen wir den Fuss des Worbig, einem markanten Hügel in der Flaacher Ebene, an dessen Flanken Reben wachsen. Unser Weg führt dem Flaacherbach entlang zur Mühle, und von dort ist es nur noch ein Katzensprung zur Wirtschaft zur Post in Volken.
Unsere Gespräche und die vielen visuellen Eindrücke haben uns die Zeit vergessen lassen. Aber vor dem Restaurant meldet sich der Hunger. Das kleine Lokal ist voll, die Luft feucht und geschwängert von den Gerüchen aus der Küche. An meiner Brille bildet sich Kondenswasser. Zum Glück hat Ueli einen Tisch reserviert. Die Serviererin entschuldigt sich, der Andrang sei heute gross und wir müssten uns etwas gedulden, bis das Essen kommt. Ich bestelle Rippli und Sauerkraut. Ein Halber Roter vom nahen Rebberg verkürzt uns die Wartezeit.
Man kennt sich hier in Volken, der einwohnermässig kleinsten Gemeinde im Kanton Zürich, sagt Ueli, Fast alle der 360 Einwohner hätten schon irgendeine politische Funktion ausüben müssen. Eine Fusion zwischen den fünf Gemeinden des Flaachertals sei 2013 an der Urne gescheitert. So leisten sich die viertausend Menschen fünf Gemeindeverwaltungen. Vielleicht ist das ja gar nicht so schlecht. Zumindest kann sich hier nicht so leicht ein Graben zwischen den Regierenden und den Regierten bilden wie in den grossen Agglomerationsgemeinden von Zürich.
Der Bus zum Bahnhof Henggart hält direkt bei der Wirtschaft, denjenigen in die Gegenrichtung haben wir eben verpasst. Er werde vielleicht zu Fuss nach Flaach zurück gehen, sagt Ueli zum Abschied. Als ich etwas später in der S12 Richtung nach Zürich sitze und den Landwein wohlig in den Gliedern spüre, kommt mir wieder Eric Kandel in den Sinn und ich frage mich, wie sich wohl mein neuronales Netzwerk während der Wanderung verändert hat und was davon dereinst in meinen letzten Tagen als Spur des heutigen Tages noch übrig geblieben sein wird.