Bildende Kunst steht wie jede andere Kunst in dem Dilemma, das Gewohnte zugunsten des Ungewohnten und damit Kreativen zu überschreiten. Das Publikum ist empört, die Kritiker sind es auch, aber nach einiger Zeit setzt sich das Neue durch, und das Publikum und die Kritiker von früher sind blamiert. Der Schock von heute ist die Gewohnheit von morgen.
Sinn für Qualität
Die Fondation Beyeler hat sich einen vorzüglichen Ruf als Hort moderner Kunst erarbeitet. Den Grundstock bietet eine Kunstsammlung, die das Ehepaar Hildy und Ernst Beyeler während etwa 50 Jahren zusammengetragen hat. Ihr wichtigster Berater war dabei Jean Planque. Dieser Mann war ein Phänomen. Ständig skizzierte und malte er, aber ihm war völlig klar, dass er an die ganz Grossen dieser Kunst nicht heranreichte. Aber indem er ihre Nähe suchte, wurde er für sie zu einem guten Geist. Er förderte sie, indem er den Wert ihrer Werke erkannte und Verbindungen schuf – bis nach Basel.
Jean Planque ist ein Beispiel dafür, dass es sehr wohl Kriterien zur Beurteilung von Kunst gibt. Formale und handwerkliche Qualität lassen sich ebenso beurteilen wie Innovationskraft und Originalität.
Auch bei der Medienpräsentation der Ausstellung von Wolfgang Tillmans in der Fondation Beyeler trugen die zuständige Kuratorin Theodora Vischer und der Direktor Sam Keller Beurteilungen vor. Aber nur in Superlativen: Tillmans sei einer der bedeutendsten bildenden Künstler des 21. Jahrhunderts und er habe die Fotografie in unserer Zeit neu erfunden.
Neue Bilder
Diese vollmundigen Aussagen lassen sich auf drei Ebenen leicht überprüfen: den Werken selbst, den Stellungnahmen von Tillmans bei der Medienpräsentation und Interviewäusserungen einschliesslich einiger Textfragmente, die einem opulenten Begleitband beigefügt worden sind. Zeigt und sagt er etwas, das die Superlative rechtfertigt?
In dem Begleitband schreibt er an einer Stelle: „Ich will NEUE Bilder machen, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht einen Gegenstand – einen Baum im Laufe der Jahreszeiten etwa – betrachten kann, den schon Generationen von Künstlern (oder Biologen, oder Kalenderherstellern) vor mir betrachtet haben. Das WIE ist entscheidend. Worte können das WAS beschreiben, den Gegenstand, das WIE ist viel schwieriger zu beschreiben, und an dieser Stelle verneint die visuelle Kunst die Sprache.“ – Dass aus einer Schwierigkeit gleich eine Verneinung folgen soll, ist ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass Tillmans offenbar keine Kunstkritiken kennt, die sich explizit mit Stilen, Techniken, Perspektiven und Kompositionen auseinandersetzen – also dem WIE – um Tillmans Vorliebe für Versalien fortzuführen.
Tillmans hat eine ganze Reihe von Bildern mit Kleidungsstücken gemacht. Dazu lesen wir im Begleitband: „Kleidung war für mich immer ein extrem wichtiger Bestandteil der sichtbaren Welt, allerdings nicht so sehr im Sinne der Modeindustrie, diese Unterscheidung geht häufig unter, sondern in dem Sinn, dass Kleidung genau genommen neunzig Prozent unserer Oberfläche ausmacht, unsere Kleidung ist, physisch betrachtet, die Membran zwischen unserer inneren Welt und der Aussenwelt.“ Wieso genau „neunzig Prozent“? Und könnte man in Bezug auf die „Membran“ nicht auch sagen: psychisch oder psychologisch betrachtet? Oder ist das völlig egal?
Die Porträts
Wolfgang Tillmans ist auch stolz auf seine Porträts. Dazu teilt er uns in dem Begleitband mit: „Das Porträt ist etwas, das mich begleitet, und ich würde es schwierig oder problematisch finden, wenn ich genug davon bekäme, denn es ist eine Aufmerksamkeitsübung, für die es kein Rezept gibt. Wenn man sich sehr selbstsicher in diese Situation begibt, dann wird die Fotografie auch genau so aussehen. Und das ist ein Grundsatz, der sich für mich im Allgemeinen als richtig erwiesen hat.“ Und so weiter und so fort. Seine Porträts sind guter Durchschnitt, aber mehr auch nicht.
Was einige Journalisten geradezu umhaut, sind die Stillleben von Wolfgang Tillmans. Die Kritikerin der NZZ erschauerte geradezu bei ihren lyrischen Ergüssen. Im Zusammenhag mit dem abgebildeten Stillleben schrieb diese Kritikerin: „Spielt bei seinen Fotografien mit der Wahrheit der Illusion.“ Was soll das heissen? In dem Begleitband ist ein Stillleben unter dem Titel „last still-life, NY, 1995“ reproduziert. Neben diversen Früchten steht ein kleiner gefüllter Aschenbecher. Das ist eine umwerfende Idee. Diese Idee ist so gut, dass vorher schon Irving Penn bei seinen Stillleben Kombinationen mit Zigarettenasche verwendet hat.
Der eigentliche Ehrgeiz von Wolfgang Tillmans liegt nun darin, die Grenzen der Wahrnehmung sichtbar zu machen und dadurch zu überschreiten. Dazu zeigt er in der Ausstellung und in dem Begleitband ein Foto, auf dem auf den ersten Blick ein Schaf zu sehen ist, das aber zwei Schatten wirft. Erst wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass es sich um zwei Schafe handelt, wobei das zweite Schaf durch das erste nahezu verdeckt wird. Dieses Foto würde sich sehr gut als Illustration in einem Buch über Sinnestäuschungen eignen.
Gerühmt werden die „abstrakten“ Fotos von Wolfgang Tillmans. Zu dem Bild „paper drop“ hat ihn der Kunstexperte Hans Ulrich Obrist interviewt, und im Begleitband ist folgende Passage abgedruckt: Tillmans erklärt, „dass ich Fotografie als Objekt verstanden habe. Ich habe das Bild nicht als körperlos verstanden, sondern in einem Umsetzungsprozess von einem dreidimensionalen Objekt in ein fast zweidimensionales Objekt: eine konzeptuelle Tätigkeit.“ Obrist fragt: „Dieser Transfer?“ – Darauf Tillmans: „Ja. Dass man etwas dreidimensional wahrnimmt und denkt und dann ins Zweidimensionale umwandelt. Eigentlich hat dieses Blatt hier auch eine Ausdehnung und ist ein Objekt. Das ist sozusagen mein Grundverständnis gewesen. Ich weiss nicht, wie das vom Himmel gefallen ist, aber ich habe das Foto immer so verstanden.“
Die Bilder in der Fondation Beyeler sind von Wolfgang Tillmans eigenhändig ausgewählt und zusammengestellt worden. Den Medien gegenüber versicherte er, dass alle Bilder zueinander eine innere Beziehung hätten. Geht man durch die verschiedenen Räume, fällt auf, dass das Ganze eher ein gefällig angerichtetes Potpourri ist. Hyperrealistische Bilder stehen neben lyrischen Impressionen, die bei einem Fotowettbewerb für Amateure recht gute Chancen hätten. Sie sind wirklich hübsch. Dann gibt es ein bisschen Abstraktion und ein bisschen Stillleben.
Diese Ausstellung verändert die eigene Wahrnehmung insofern, als sie einen tiefen Blick in die Mechanismen des internationalen Kunstmarktes bietet. Die Fondation Beyeler vergisst nicht, herauszustellen, dass die Werke von Wolfgang Tillmans sehr, sehr teuer sind.
Fondation Beyeler, Baselstrasse 77, Riehen/Basel, bis 1. Oktober 2017