Jetzt hat das FBI den 81-jährigen Bostoner Mafiaboss James „Whitey“ Bulger verhaftet,in Santa Monica, auf der Sonnenseite Amerikas. Am Ende liess sich „Whitey“ Bulger in der Nähe seiner Mietwohnung in Los Angeles widerstandslos festnehmen. Es schien fast, als wäre er erleichtert, dass seine Flucht vor dem Gesetz am späten Nachmittag des 22. Juni um viertel vor Sechs ein Ende nahm.
Den entscheidenden Hinweis hatte dem FBI zufolge eine Frau in Island geliefert, die Bulger und dessen Freundin in Santa Monica getroffen und deren falsche Namen erfahren hatte – Identitäten, die es laut offiziellen Dokumenten in Kalifornien nicht gab und die deshalb gefälscht sein mussten. In Bulgers Zwei-Zimmer-Apartment an der 1012 Third Street, unweit vom Strand, fanden Agenten 800 000 Dollar in Bar, gefälschte Ausweise, mehrere Mobiltelefone, Messer sowie, in einem Versteck, 30 Pistolen, Schrotflinten und Gewehre. An der Wohnungstüre prangte ein Schild: „Bitte zu keiner Zeit anklopfen“.
Besonderes Kennzeichen: Dentalhygiene
Die Bundespolizei hielt Identität der Informantin, auf die eine angemessene Belohung wartet, aus Sicherheitsgründen geheim. Die US-Justiz hatte James Joseph Bulger 1994 wegen organisierten Verbrechens (Erpressung, Wucher, Glücksspiel, Zeugenbeeinflussung und Verschwörung) sowie später wegen Mordes in 19 Fällen angeklagt. Inzwischen hat der zuständige Bundesanwalt entschieden, die Anklage wegen organisierten Verbrechens fallen zu lassen, um sich auf die 19 Mordfälle zu konzentrieren, die dem Sohn armer irischer Einwanderer zur Last gelegt werden. Die Strafverfolger wehren sich dagegen, dem 81-jährigen Angeklagten einen öffentlichen Pflichtverteidiger beizustellen. Bulger und dessen Familie, so meinen sie, hätten Mittel genug. Als der zuständige Richter in Los Angeles Bulger nach dessen Festnahme fragte, ob er alle Anklagen gegen ihn habe lesen können, antwortete der Gangster mit nach wie vor starken Bostoner Akzent: „Ich habe sie alle gekriegt. Es wird aber noch etwas dauern, bis ich sie gelesen habe.“
Indes ist Catherine Greig, die 60-jährige Lebensgefährtin des Gangsters, wegen Beihilfe zur Flucht angeklagt. Auf sie hatten am Schluss die Bemühungen des FBI gezielt, da die Bundespolizei ihre Lebensgewohnheiten zu kennen glaubte: Die Blondine hatte, bevor sie untertauchte, zwei Hunde besessen, gerne Schönheitssalons besucht und sich, als frühere Dentalhygienikerin, jeden Monat die Zähne reinigen lassen. Entsprechend gestaltete das FBI einen 30-sekündigen Fernsehspot, der in 14-TV-Märkten während Sendungen gezeigt wurde, die ältere Frauen untertags gerne sehen – Vertreterinnen jenes Zielpublikums, das Greig - in der Tierhandlung, im Beauty Parlour oder beim Zahnarzt – am ehesten wieder erkennen würde: „Es gibt jemanden in den USA oder sonst wo auf der Welt, der Catherine Greig als Nachbarin, Freundin oder Arbeitskollegin kennt.“. .
Gefürchtete Wutausbrüche
Nachbarn des flüchtigen Paares in Santa Monica haben Bulger und Greig der „New York Times“ zufolge als zwar freundliches, aber eher zurückgezogenes, etwas eigensinniges Rentnerpaar beschrieben, das sich als Charlie und Carol Gasko ausgab. Charlie habe erzählt, er sei lungenkrank und liege zu Hause meistens auf der Couch und schaue fern. Gelegentlich verliess das Paar seine eher bescheidene Wohnung in Santa Monica, um im Quartier spazieren zu gehen, wobei Charlie zornig zu reagieren pflegte, wenn Carol für seinen Geschmack zu lange mit Passanten plauderte. Carol erklärte jeweils, Charlie leide an Demenz.
Dabei war James „Whitey“ Bulger bereits während seiner Zeit als Boss der irischen Mafia in Boston für seine Wutausbrüche gefürchtet gewesen, die mitunter in brutale Gewalttaten mündeten. Einst soll er die Freundinnen zweier Untergebener erwürgt haben. „In Southie (Südboston) pflegten sie zu sagen, das Trottoir würde beben, wenn Whitey eine Strasse entlang läuft“, erinnert sich ein Ex-Agent der amerikanischen Drogenverfolgungsbehörde (DEA). „Meiner Meinung nach war Whitey in Boston gefürchteter als (Mafiaboss) John Gotti in New York.“
Unehrenhafte Entlassung
Seinen Übernamen verdankte der Gangster seit der Kindheit in Südboston seinem hellen Haarschopf. „Whitey“ Bulgers Verbrecherlaufbahn hatte in den 50er-Jahren nach einer dreijährigen Dienstzeit in der Air Force begonnen, aus der er wegen unerlaubten Fernbleibens von der Truppe unehrenhaft entlassen wurde. 1956 verurteilte ihn ein Gericht nach einer Reihe von Banküberfällen zu einer längeren Gefängnisstrafe, die er zum Teil auf der Insel Alcatraz vor San Francisco absass. Zurück in Boston, schloss sich Bulger der berüchtigten Winter Hill Gang an, die das organisierte Verbrechen in den irischen Quartieren der Stadt kontrollierte. Schliesslich stieg er zusammen mit Stephen („der Gewehrschütze“) Flemmi zum Boss der Bande auf. 1990 soll Bulger einen der grössten Kunstdiebstähle der Geschichte organisiert haben, als aus einem Bostoner Museum 13 wertvolle Gemälde von Rembrand, Vermeer, Degas und Manet verschwanden.
Mitte der 70er-Jahre rekrutierte das FBI „Whitey“ Bulger als Informanten bei der Bekämpfung des italienischen Zweigs der Mafia in Boston. Die Bundespolizei liess ihn weiterhin seinen kriminellen Aktivitäten nachgehen; Bulger und Flemmi sollen während dieser Zeit weitere brutale Morde begangen haben. Als die DEA und die lokale Justiz gegen Bulger zu ermitteln begannen, warnte ihn Ende 1994 der pensionierte FBI-Agent John Connolly Jr., der ihn einst angeworben hatte, kurz vor der geplanten Verhaftung. Der irische Mafioso floh noch in der selben Nacht aus der Stadt und blieb verschwunden. 2003 sollte ein Ausschuss des Kongresses in Washington die Kontakte des FBI zu „Whitey“ Bulger „eines der grössten Versagen in der Geschichte der nationalen Strafverfolgung“ nennen. Agent Connolly Jr. wanderte ins Gefängnis.
"Glauben Sie mir: Ich bin Elektriker."
Das FBI beschrieb den Verräter in den eigenen Reihen als schwarzes Schaf und wehrte sich gegen Vorwürfe, den flüchtigen Mafiaboss nicht unter Einsatz aller möglichen Mittel zu suchen. Doch nach einer Reihe von Anhörungen Ende der 90er-Jahre kam ein US-Bundesanwalt der „Washington Post“ zufolge zum Schluss, dass mehr als ein Dutzend FBI-Agenten bei ihren Kontakten mit James Joseph Bulger das Gesetz gebrochen oder gegen interne Richtlinien verstossen hatten.
Ein früherer Drogenhändler und Untergebener Bulgers in Boston vermutet, dass sein einstiger Boss nun vor Gericht auspacken und neue Details über die Korruption bei der Bundespolizei enthüllen werde. „Whitey war nicht blöd. Er wusste, dass sie ihn eines Tages kriegen würden“, sagte der Mann: „Ich glaube, es wird ihm Spass machen, all diese Leichen aus dem Schrank zu zerren.“ Das FBI mochte diese Prognose: nicht kommentieren. Weniger zurückhaltend äusserten sich dagegen Angehörige von mutmasslichen Opfern des Angeklagten. Thomas Donahue, dessen Vater „Whitey“ Bulger angeblich 1982 ermordet hatte, sagte den Medien gegenüber, den Gangster zu sehen erfülle ihn mit Zorn. „Whitey“ Bulger, sagte Donahue, verdiene es, auf dem elektrischen Stuhl zu sterben: „Glauben Sie mir, ich bin Elektriker. Ich weiss.“