Teodor Currentzis polarisiert. Und irritiert. Seit der Grieche mit russischem Pass auf Europas grossen Konzertbühnen aufgetaucht ist, seit er mit eigenwilligem Stil und ebenso eigenwilliger Interpretation Mozart & Co. entrümpelt und aufgefrischt hat, seit er das Publikum ein neues Hören gelehrt hat, ist Currentzis nicht mehr wegzudenken. Die einen lieben ihn. Die anderen nicht. Jetzt kommt er, mit musikalischem Anhang, wieder in die Schweiz.
Wenn Teodor Currentzis mit Chor und Orchester musicAeterna nun drei Tage in Luzern auftritt, ist vieles an diesem Gastspiel eine Premiere. Diesmal soll es weit über die eigentliche Musik hinausgehen und eine Fülle von Aspekten bieten. «Currentzis total» sozusagen. Zu dieser sogenannten «Residenz» gehören neben Konzerten auch Meisterklassen, Filmvorführungen und eine Fotoausstellung. Luzern wird damit der erste Ort, an dem Currentzis und musicAeterna das neue Tournee-Konzept anwenden. Später geht es weiter nach New York, Paris, Tokyo, Berlin, Moskau etc.
Aufgebaut ist diese Residenz auf den besten Projekten, die Currentzis in St. Petersburg entwickelt hat, dem neuen Hauptsitz, nachdem er mit musicAeterna das sibirische Perm verlassen hat. Ziel ist es, regelmässig an diesen verschiedenen Residenz-Orten aufzutreten und zusammen mit Chor und Orchester Bestandteil der kulturellen Landschaft zu werden.
Lieder voller Trauer und Zorn
Im Mittelpunkt des ersten Tages steht «Tristia», ein sehr spezielles Werk, das ungewöhnlich für den Konzertsaal, aber sehr typisch für Currentzis selbst ist und vor allem für seinen phantastischen Chor, der hier im Mittelpunkt steht.
Komponist ist der Franzose Philippe Hersant. Das Werk beruht auf Gedichten, die französische Häftlinge im Kloster Clairvaux geschrieben haben, das eine Zeitlang als Gefängnis diente. «Currentzis hat eine Aufnahme der ersten Stücke von ‘Tristia’ gehört und mich angefragt, ob ich das ausbauen und mit Gedichten von russischen Gefangenen ergänzen könnte», erzählt Hersant. «Ich konnte es kaum glauben: Currentzis meldet sich bei mir!» Hersant zögerte nicht und komponierte eine Art Oper für einen Chor. «Es ist eine Folge von Gefängnis-Geschichten, es ist wie ein Mosaik aus verschiedenen Steinen, die am Schluss ein Ganzes ergeben.»
Ein Blick zurück. Geprobt wurde im Sommer 2016 in Perm. Der Probenraum: eine riesige Turnhalle in einem mächtigen Gebäude am Rande des Zentrums von Perm. Es ist schwül und heiss an diesem Tag und es ist die letzte Probe vor der Uraufführung. Paukengrummeln, leise, bedrohlich, brutale Männerstimmen schreien ihr Elend in den Raum, begleitet von Donnergrollen und zerquetschten, aufwallenden und verebbenden Akkordeonklangfetzen. Dann rhythmische Frauenstimmen, süss und gebrochen – alles fliesst ins Nichts.
Mittendrin Teodor Currentzis: Er verausgabt sich physisch und psychisch und geht völlig auf in diesen suggestiven Klängen. Lieder der Einsamkeit, die das Elend in der Luft hängen lassen, eine einzelne Geige, trauernd, rhythmisch untermalt vom Akkordeon. Hechelnde Stimmen, immer schneller, immer atemloser, ein russischer Text, fremdartig und anrührend und immer wieder diese gottverlassenen Klänge. Plötzlich, leicht und fröhlich wie ein Vogel, eine Flöte, eine Frauenstimme. Russische Volksweisen klingen in Hersants Komposition an. Tiefe, volle Männerstimmen, hohe Frauenstimmen, alles a cappella, und von ganz hinten mischt sich ein Fagott ein.
Tags darauf, bei der mitternächtlichen Uraufführung, hört auch das Publikum bei Kerzenlicht gebannt den Klageliedern zu, und erlebt in dieser von Currentzis inszenierten magisch-mythisch-mysteriösen Atmosphäre das Eingesperrtsein fast physisch. Man hat die Weiten Russlands vor dem geistigen Auge und spürt die Sehnsucht derer, die diese Weite nur durch Gitterstäbe sehen.
Leidenschaft und Emotion
Seit dieser denkwürdigen Uraufführung sind fünf Jahre vergangen und Currentzis hat das Werk an verschiedenen Orten vor einem faszinierten Publikum aufgeführt, in der Schweiz noch nie. Für Currentzis gehört «Tristia» zu den wichtigsten zeitgenössischen Stücken. Und seine Wirkung verfehlt es nie. Egal an welchem Ort.
Philippe Hersant hat seither kleinste Veränderungen an dem Stück vorgenommen, aber die Gesamtwirkung nicht verändert. Leidenschaft und starke Emotionen seien nach wie vor für ihn mit «Tristia» verbunden, sagt Hersant heute. «Es ist ein Werk, das mir sehr wichtig ist, auf der humanen Ebene wie auch auf der musikalischen. Gekrönt durch die Zusammenarbeit mit herausragenden Musikern wie Teodor Currentzis oder dem Chorleiter Vitaly Polonsky, und natürlich den Musikern und Sängern von musicAeterna. Ich hätte mir nichts Besseres erträumen können.» Verschiedene Gastspiele von «Tristia» hat er begleitet, jetzt kommt er auch nach Luzern, um im Anschluss an das Konzert gemeinsam mit Teodor Currentzis an einer Podiumsdiskussion über «Glaube, Freiheit, Licht» teilzunehmen.
Von Masterclass bis Mahler
«Teilnehmen» ist auch das Stichwort für den zweiten und dritten Tag. Masterclass für junge Dirigentinnen und Dirigenten, Masterclass für Tänzer und Tänzerinnen, ausserdem «Zehn Poeme nach Worten revolutionärer Dichter», so der Titel eines Chorzyklus’ von Dmitri Schostakowitsch auf der KKL-Bühne, Filmvorführungen, eine Fotoausstellung und vor allem: ein Treffen zwischen Publikum und Ensemblemitgliedern von musicAeterna. Abgeschlossen werden diese drei Tage mit der fünften Sinfonie von Gustav Mahler. Sie wissen schon, das ist die mit dem traumhaften Adagio aus dem Film «Tod in Venedig».
Ein interessantes Konzept, das weit über ein Konzert-Gastspiel hinausgeht. Spannend, wenn man sich darauf einlässt und eintaucht in die Welt von Teodor Currentzis und musicAeterna.
Übrigens: Die Bilder zu diesem Artikel sind Teil der Foto-Ausstellung der Moskauer Fotografin Alexandra Muravyeva. Sie hat die Arbeit von Teodor Currentzis und musicAeterna über Jahre dokumentiert. Die Ausstellung ist auch in Luzern zu sehen.
KKL Luzern, International Residency Lucerne
6.- 8. Oktober 2021