Pfingsten kommt vom altgriechischen Pentekoste: «der 50. Tag». Es war zunächst ein jüdisches Fest (hebräisch: schawuot = Wochen), an dem die Offenbarung der Zehn Gebote am Sinai und damit des ganzen jüdischen Gesetzbuches gefeiert wurde. 50 Tage zuvor fand das Pessach-Fest statt: zum Gedenken an die grosse Befreiung im Auszug aus Ägypten. Das Pessach-Fest wird dann für die Jesus-Anhänger zum Osterfest, an dem sie die Auferstehung Jesu als den Auszug aus dem Tod feiern, und Pfingsten wird für sie zum Fest des Heiligen Geistes, der den Menschen das Gesetz der Gott- und Nächstenliebe ins Herz einbrennt. Im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte hören wir, wie der Heilige Geist in Jerusalem mit einem mächtigen Brausen auf eine Gruppe von Jesus-Anhängern in Form von Feuerzungen herabkam. Einige konnten daraufhin so sprechen, dass herbeikommende Menschen aus aller Herren Länder, die in Jerusalem weilten, sie in ihrer eigenen Muttersprache verstehen konnten.
Bis heute wird «Pfingsten als Anti-Geschichte zum Turmbau zu Babel» ausgelegt (so der Titel einer Predigt im Internet): In Babel wollte der altisraelitische Gott Jahwe die Sprache der Menschen «verwirren, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht» (Gen 11,7). Das Pfingstereignis wirkt wie das Gegenteil: Die Gegenwart des Göttlichen lässt die Menschen aller Länder sich jenseits ihrer verschiedenen Sprachen verstehen.
Sich-nicht-mehr-Verstehen im Zerreden und tiefes Verstehen jenseits der Sprachen sind zwei Urerfahrungen, die wir überall erleben: in der Zweierbeziehung und der Beziehung von kleineren und grösseren Gruppen. Am Anfang der Corona-Krise zeigten sich kleine kreative Feuerzungen eines scheinbar tieferen Verstehens mit Singen und Musik auf den Balkonen; jetzt beim Abflachen der Krise kracht und raucht es wie aus dem Turm zu Babel. So mein Eindruck, wenn ich nur die Oberfläche betrachte. Was im Stillen einer pfingstlichen Atmosphäre geschieht, ist meist verborgen.
Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät
Carel van Schaik und Kai Michel bringen in ihrem «Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät» die Geschichte vom Turmbau zu Babel sogar mit dem Phänomen der Seuchen in Verbindung (114–131) und entdecken dann in dem jüdischen Gesetzeswerk wichtige Prävention gegen Krankheiten und Seuchen (160–211). Ich möchte das Grundanliegen der beiden Autoren als Hintergrund kurz skizzieren.
Die beiden Autoren betrachten die Bibel nicht als Religionswissenschaftler und schon gar nicht als Theologen. Sie verstehen sich als «Agnostiker». Carel van Schaik ist Evolutionsbiologe und Direktor des Instituts und Museums für Anthropologie an der Universität Zürich; Kai Michel ist Historiker und Literaturwissenschaftler. Ihr Hauptanliegen ist es, die biblischen Textsammlungen darauf hin zu durchleuchten, was sie für die kulturelle Evolution verraten. Deshalb der Untertitel: «Was die Bibel über unsere Evolution verrät».
Die Sesshaftwerdung der Menschheit ab 10’000 v. u. Z. gilt heute als die grösste Krise, auf die der Homo sapiens weder biologisch, noch organisatorisch, noch psychisch vorbereitet war. Es entstanden immer grössere, unüberblickbare, sich bekämpfende Gesellschaften mit wachsenden Hierarchien, organisierten Kriegen bis hin zu den grossen Imperien. Im Vergleich zur Wildbeuterzeit, die über hunderttausende von Jahren dauerte, türmten sich in kürzester Zeit ab 10’000 v. u. Z. immer grössere Probleme auf, die immer schnellere Reaktionen verlangten und dabei gleichsam einen zweiten «Urknall der Kultur» auslösten (S. 15). Dabei veränderten sich auch die Religionen als Produkte und Motoren der kulturellen Entwicklung in einem ebenso explosiven Masse: von den Geistern zu den unübersehbaren Scharen von Gottheiten bis hin zu den monotheistischen Weltreligionen. Die beiden Autoren sehen diese weltgeschichtliche Entwicklung in der Bibel wie unter einem Brennglas im Schicksal des alten israelischen Volkes von 1000 v. u. Z. bis 100 n. u. Z. gespiegelt. Deshalb der Titel «Tagebuch der Menschheit».
Ein Hinweis zur Bibel: Sie ist eine heterogene Ansammlung von verschiedensten Büchern und Texten, in der alle damaligen Schriftgattungen vorkommen. Ihr Entstehung gleicht einem Schneeball, der über 1000 Jahre vom Berg der Geschichte herunterrollt, immer Neues aufnimmt und immer grösser und komplexer wird. Diejenigen, die von Generation zu Generation hinzufügen, umschreiben und je nach neuer Situation völlig neu ordnen, waren die jeweiligen Schriftgelehrten (meist vom konservativen, ja bisweilen fundamentalistischen Flügel). Wir haben es also mit einem intellektuellen «Minderheitenreport» zu tun (S. 23), der aus einem «Hundert-Stimmen-Strom» besteht (S. 24).
Eindrücklich zeigen die beiden Autoren im Detail, wie in der Bibel gerade die kleineren, grösseren oder übermässigen Katastrophen den kulturellen Urknall weiter voranschieben, indem sie «kulturelle Schutzräume» hervorbringen, und dies in ständiger Verflechtung mit der «Religion als Katastrophenschutz» (S. 120). Das kleine Volk der Israeliten stand meist unter einer «Kriegspsychose» (S. 215), weil es immer neu von den grossen Imperien Assur (um 700), Babylon (um 500), Alexander (um 300) und Rom (um 60 v. u. Z.) auf den Untergang bedroht, unterjocht, deportiert und ausgebeutet wurde. Diese Katastrophen vergleichen die beiden Autoren mit Schmelzöfen, in denen sich mit der Kultur nicht zuletzt die Gottvorstellung immer neu herauskristallisierte: von einem subalternen wütenden Stammesgott bis zum Welt-Gott.
Die Städte als Todesfallen mit Legionen von unsichtbaren Mikroben
Aber neben den ständigen politischen Bedrohungen gab es noch ein anderes Damokles-Schwert, das mit der Sesshaftigkeit immer mehr drohte und zuschlug: «Das Unheimlichste – und Vernichtendste waren die Seuchen, die wie aus dem Nichts über die Menschen hereinbrachen». (S. 115) Die Hauptursache war das enge Zusammenleben mit den domestizierten Haustieren und frei herumfliegenden und herumlaufen Tieren, aber auch der arglose Umgang mit Kot und Urin. Heute wissen wir, dass die meisten krankheitsstiftenden Mikroben (Bakterien, Pilze, Viren u. a.) von Tieren auf den Menschen übertragen werden. War schon die Entstehung der Landwirtschaft «ein Glücksfall für unsere Mikroben», dann umso mehr der Aufbau von Städten (S. 115, 129). Die ersten Städte waren meist ohne Strassen und bestanden oft aus gleichen hüttenartigen Häuschen, Wand an Wand, oft nur über das Dach der Nachbarn zu erreichen. Archäologische Befunde (im Mittelmeerraum wie in Europa) zeigen, dass erste kleinere Städte vor 4000 v. u. Z. nach einer Boomphase wieder aufgegeben wurden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Seuchen die so nah aufeinander Wohnenden ausradierten. Spätere Städte ab 4000 v. u. Z. zeigen dann andere Städtebaustrukturen, an denen wir die wachsenden Hierarchien von Königen, fürstlichen Familien, Mittelstand, Armen und Sklaven ablesen können. Aber auch hier feierten die Mikroben ihre Seuchen-Feste. Ein rotes und undurchschaubares Tuch waren «die Fremden». Diese brachten oft Mikroben mit, gegen die sie selbst schon resistent waren, dann aber die Einheimischen zum Teil ausradierten (wie noch bei der Eroberung Amerikas deutlich abzulesen, wo die europäischen Mikroben die Einheimischen dezimierten). Oder/und: Die aus fremden Ländern eingebrachten Arbeitskräfte starben wie die Fliegen an Mikroben der Einheimischen. In den damaligen Städten starben mehr Menschen, als geboren wurden. Nur weil immer neue vom Lande hinzuzogen und Fremde hineindeportiert wurden und damit wieder neue Seuchen- und Krankheits-Mikroben, blieb der Bevölkerungslevel konstant. Leben und Sterben mit den unbekannten Legionen von Mikroben war Alltag. (S. 114-132)
Von den Geistern zu den Göttern bis zur Gottheit der Pestilenz
Nicht zuletzt die Seuchen und andere Plagen brachten es mit sich, dass aus Geistern der Wildbeuterzeit jetzt Gottheiten wurden. Weil die Nöte übergross wurden, mussten eben auch grössere Kräfte her, welche die Urheber dieser Nöte (oder die Helfenden gegen diese) sein können. «Hinter einer gewaltigen Wirkung muss eine gewaltige Ursache stehen.» (S. 116). In der Geschichte vom Auszug aus Ägypten, welcher ja im jüdischen Pessachfest gefeiert wird, bekommen wir gebündelt zehn wichtige katastrophale «Plagen» vor Augen geführt, darunter auch vier Krankheiten und Seuchen. Diese sind allesamt vom israelitischen Gott initiiert und gegen das ägyptische Volk gerichtet, damit der Pharao die israelitischen Fremdarbeiter ziehen lässt. (Exodus 7–11). Der Gott der Israeliten zeigt sich hier deutlich als Gott der Pestilenz und Plagen. Dazu passt folgende Notiz: Es gab vor dem israelitischen Stammesgott «Jahwe» um 1000 v. u. Z. eine kanaanitische Gottheit mit dem Namen «daewaer», das heisst «Pest/Seuche/Epidemie’, oft auch als Sammelname für «Krankheit» verwendet. Als Jahwe immer mehr Bedeutung gewann, ging diese kanaanitische Gottheit in ihm auf, so dass er jetzt als «Gottheit der Pestilenz» gefürchtet und beschworen wurde (S. 193). Wie diese Gottheit den Turmbau zu Babel zusammenbrechen liess, davon soll jetzt die Rede sein.
Das Desaster des Turmbaus zu Babel – ein Opfer der Mikroben?
Als ab 3800 v. u. Z. sehr grosse Städte entstanden, wurden auf Befehl der Mächtigen auch monumentale Gebäude erbaut. Bekannt sind die ägyptischen Pyramiden und im Zweistromland die sogenannten Zikkurate; das sind riesige gestufte Tempeltürme (z. B. von 70 x 50 x 30 Meter. Eine Zikkurat hiess z. B. «Haus der Fundamente von Himmel und Erde» eine andere «Haus der sieben Dächer von Himmel und Erde» (Internet: Zikkurat). Es gibt in verschiedenen Völkern Geschichten von gescheiterten Turmbauten, auch im Zweistromland. Erzählt wird, warum der Bau scheitert und die Beteiligten vernichtet oder bestraft werden. Zum Erzählrepertoire gehört, dass der bis in den Himmel ragende Bau die Gottheiten zum Eingreifen herausforderte. Sehr bekannt ist die biblische Version. Auch hier wird uns erklärt, dass die Gottheit den Bau stoppt oder zusammenbrechen lässt, weil ihr die Menschen zu gefährlich werden. Wir dürfen vermuten, dass die biblischen Redaktoren hier auch die Megalomanie der Assyrer und Babylonier mit ihren riesigen Zikkurat-Anlagen kritisierten. Hinzukam das Motiv der Sprach-Zerstreuung über die ganze Erde. Das wird meist als eine sogenannte Ätiologie (Ursprungserklärung) gewertet, warum es so viele verschiedene Menschengruppen und Sprachen in einem Land und auf der Welt gibt.
Carel van Schaik und Kai Michel vermuten noch eine dritte Hauptquelle. Was wir vor Augen haben, ist ein grösseres, nicht vollendetes oder/und in sich zerfallenden Bauwerk. Es könnte eines der nicht vollendeten Bauwerke sein, wie sie bei Ausgrabungen gefunden wurden. Es gibt immer noch viele Pyramiden, die als nicht vollendete unter dem Wüstensand liegen. Solche Bauwerke verlangten Legionen von Arbeitenden, wo sich auch Legionen von Mikroben ausbreiteten. «Es waren die Grossbaustellen des Altertums, die zu den gefährlichsten Infektionsherden wurden. Dort trafen Arbeiter von überall her aufeinander – Kriegsgefangene, Sklaven, Deportierte. Unter miserabelsten hygienischen Bedingungen und schlechter Ernährung mussten sie schuften. Ein ideales Habitat für Mikroben aller Art (S. 130). Es kann also sein, dass die Erfahrung einer solchen Epidemie bei einem Grossbauprojekt ein weiterer Mit-Auslöser für Turmbauerzählungen war. Dabei können wir uns ganz konkret vorstellen, wie die Überlebenden verschiedener Sprachen in alle Himmelsrichtungen flohen.
Die biblische Gesetzessammlung kennt vorwissenschaftliche Präventionen gegen Krankheiten und Seuchen.
Für Carel van Schaik und Kai Michel bietet die Bibel nun einen besonderen «Meilenstein der kulturellen Entwicklung» (S. 158), nämlich ein «kulturelles Schutzsystem erster Güte» (S. 223). Das ist die Gesetzes-Sammlung im Buch Deuteronomium – dessen Offenbarung ja am jüdischen Pfingstfest gefeiert wird. Diese Sammlung enthält Regelungen zu allen zentralen Problemen des Miteinander-Lebens: zu Macht und Gewalt, Gerechtigkeit und Nächstenliebe, Ordnungen jeder Art, nicht zuletzt zu den Opferriten. Vor allem die Gesetze zum Schutz vor Krankheiten werten Carel van Schaik und Kai Michel als vorwissenschaftliche Prävention.
Ich erinnere: «Das Unheimlichste – und Vernichtendste – waren die Seuchen, die wie aus dem Nichts über die Menschen hereinbrachen.» (S. 115) Besonders fallen deshalb auch die gesetzlichen Schutzmassnahmen gegen Krankheiten und Epidemien auf: die vielen Gesetze zu Rein und Unrein, zu Blut, Sperma und anderen Körperflüssigkeiten, zu Exkrementen und Fäkalien, zu Toten und Leichen, zum Aussatz, zur Homosexualität und Sodomie, zum körperlichen Umgang miteinander, natürlich zu den Speisen und nicht zuletzt zum Umgang mit den Fremden. Carel van Schaik und Kai Michel sprechen zusammenfassend von einer «biblischen Protomedizin» (S. 192), weil immer wieder eine Ahnung zu spüren ist, wo Krankheiten und Seuchen ihre Tore finden (z. B. in Fäkalien, Leichen, Tieren und – Fremden) und dann gebremst werden können (vor allem durch Reinigung und Abstand), was sich ja bis heute bestätigt.
Das ganze Schutzraumgebäude im Deuteronomium ist «religiös» getragen. Grundsätzlich gibt es kaum eine historische (und auch zeitgenössische) Gesellschaft, die Krankheiten nicht auf das Missfallen einer göttlichen Kraft zurückführen (S. 179). In der Bibel spitzt sich dies zu. Auf geradezu drastische Weise wird dies im Buch Deuteronomium ausgedrückt: Gott wird dich, (das Volk), «mit allen ägyptischen Plagen» und allen zusätzlichen Plagen, mit allen möglichen Krankheiten wie Pocken, Pest und Aussatz schlagen, «bist du vertilgt bist» – wenn du mir nicht dienst und gehorchst (Dtn 28.26.27. 56–61). Carel van Schaik und Kai Michel resümieren: «Was für Zeus der Blitz ist, sind für Jahwe Aussatz und Pestilenz.» (S. 180) Mit denen fährt er ständig unter die Israeliten (bisweilen auch unter deren Feinde), dass sie oft zu Tausenden sterben. Aus heutiger Sicht sind das nicht Zeugnisse für die Grausamkeit der Gottheit, sondern der Spiegel dafür, wie die Menschen damals ständig grausam von Seuchen, Epidemien und Plagen heimgesucht wurden. Was dagegen tun? Die Antwort lautet: Gesetze schaffen und Gesetze einhalten, damit die Gottheit nicht noch Schlimmeres bringt. Das schien die beste Epidemie- und Krankheitsprophylaxe, die zugleich die Volksgemeinschaft stabilisierte.
Kulturelle Schutzsysteme angesichts der Corona-Krise
Heute brauchen wir zur Krisenbewältigung keine Gottheit, sondern entscheidungsstarke Regierende mit klugen Verordnungen. Wenn ich die heutige Corona-Krise mit den biblischen Seuchen-Katastrophen oder den Pestwellen im Mittelalter oder der Spanische Grippe am Anfang des 20. Jh. vergleiche, dann sage ich dankbar: Ich bin froh, dass ich damals nicht leben musste. Ich bin auch überrascht, wie schnell heute in Westeuropa auf der Basis bestehender Systeme kulturelle Schutzsysteme aufgebaut werden. Es ist anders als früher, wo Mächtige mögliche Schutzsysteme für die Bevölkerung unterminierten, um selbst zu profitieren. Das schliesst nicht aus, dass, wie bei jeder kulturellen Entwicklung von Schutzsystemen, auch heute neue Probleme produziert werden. Das gehört dazu. Beim moralisch-verantwortlichen Handeln geht es immer um die Wahl des geringeren Übels, wie ich beim Schweizer Moraltheologen Franz Böckle gelernt habe.
Die uralte Mischung von Babel und Pfingsten heute
Wie bei allen Krisen, blüht auch in der Corona-Krise ein vielfältiger Strauss an Reaktionen: Einige meinen, die Verantwortlichen wollten einmal zeigen, wie viel Macht sie haben. Prophetische Stimmen erschallen: Wir bauen eine bessere Welt. Andere rufen zum Wachbleiben auf: Ihr vergesst die Weltprobleme wie Klima und Flüchtlinge. Ja, ihr vergesst die Verletzlichkeit und Unvorhersehbarkeit von Leben und Menschsein. Soziale Stimmen rufen: Solidarität. Aber bald kippt bei einigen die Solidarität ins Gegenteil: Isoliert die Alten! Wie immer geht es um das Thema: Der wirtschaftliche Fortschritt ist bedroht. Und: Wer bekommt am meisten Geld und Unterstützung. Manchmal sind die Reichen am meisten um ihren Profit besorgt, obwohl sie es gar nicht sein müssten. Das war auch in biblischen Zeiten so. Und Betrug kennt keine Grenzen.
Wie bei allen Krisen in der Vergangenheit blühen heute auch verschiedenste Verschwörungstheorien, von denen einige hoch aggressiv und sozial gefährlich wirken. Sie verweisen mich erneut auf die neutrale Tatsache, dass Handeln und Denken auf weite Strecken gerade nicht logisch geprägt sind. Mehr als 90% sei vom Unbewussten geprägt, meinte Sigmund Freud.
Natürlich reagieren auch religiöse Kräfte. Im Vergleich zu biblischen Zeiten stehen sie nicht mehr im Zentrum, sondern wirken wie ein Dekor. Wie zu erwarten, sehen fundamentalistische Gruppen in der Epidemie die Strafe Gottes. Andere schimpfen (wie der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz), dass gemeinsame Gottesdienste verboten werden. Polnische Priester wollen mit Gebet und Hostien den Virus stoppen. Der Churer Bischof Eleganti meint, geweihte Hostien und Weihwasser seien virenfrei.
Im zentrierten ruhigen Gegenprogramm zeigten katholische wie reformierte Vertreterinnen und Vertreter kreative Lösungen für Gottesdienste über Radio und Fernsehen.
Und wie immer gibt es vor allem die vielen Stillen, die sich in der Schweiz, in Europa und in anderen Ländern handfest um Hilfestellung kümmern im Sinne der Predigt Jesu.
Wenn ich diese Szenerien zusammenhöre und -sehe, denke ich an die Sprachverwirrung zu Babel und zugleich an das tiefe Verstehen jenseits der konkreten Sprache im Pfingstereignis. Die Sprachverwirrung ist laut bis penetrant. Das tiefe Verstehen jenseits der Sprachen ist still. Die Mischung von beidem wird unser Leben auch in Zukunft prägen: ein Babel-Pfingsten.
Die kulturelle Entwicklung geht amöbenhaft langsam – aber sie geht
Beim Abflauen unserer Corona-Krise kann ich sagen: Wir wurden nicht von den Mächtigen und Reichen in den Epidemie-Untergang geschickt und in eine Turmbau-Ruine verbannt. Wir leben am Ende der Krise weiter in einem Gefüge, das viele Möglichkeiten des Mit- und Gegeneinander zulässt. Viele fragen sich, welche Spuren die Krise hinterlässt. Die Erfahrungen der Vergangenheit lassen mich nüchtern sagen: Wenig neue. Denn die kulturelle Evolution wie die persönliche Entwicklung gehen immer langsam. Mein erster Lehrer in der Psychoanalyse sagte mir in der ersten Stunde: «Herr Wittschier, die Seele geht amöbenhaft langsam*. (Pause) Aber sie geht.» So denke ich: Meine Seele und die Seelen der anderen und die Quasi-Seelen der Gemeinschaften und der Gesellschaft als ganzer gehen amöbenhaft langsam. (Pause) Aber sie gehen.
*Die Bewegungen von Amöben sind nicht mit dem bleibenden Auge zu erkennen; erst wenn ich nach einiger Zeit neu hinschaue, sehe ich den halben Millimeter Fortgang.
Angabe zum Buch:
Carel van Schaik und Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Amerik. Original 2016; deutsche Fassung: Rowohlt, 2016. (benutze 3. Auflage 2016)