Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass syrische Kurden nun mit der Damaszener Zentralregierung gemeinsam gegen die türkischen Angreifer antreten, nachdem die Kurden bisher von den Assad-(Vater- und Sohn-)Regimen eher stiefmütterlich behandelt worden waren und sich deshalb in den zurückliegenden Jahren des Bürgerkrieges eine weitgehende Autonomie in ihren Gebieten geschaffen hatten. Wie immer sich nun aber die militärische Auseinandersetzung mit der Türkei weiterentwickelt: Die Kurden werden wohl kaum als Sieger daraus hervorgehen. Denn es ist nicht anzunehmen, dass Bashar el Assad diese Autonomie hinnehmen wird, nachdem er oppositionelle und separatistische Bewegungen in den letzten Jahren doch immer mit äusserster Gewalt bekämpft und unterdrückt hat.
Gleichwohl werden die Kurden ihm willkommene Kampfgefährten sein. Mehr als alle anderen konnten sie Erfahrung sammeln in der jetzt zu Ende gehenden Ära der Zusammenarbeit mit Einheiten des amerikanischen Militärs beim Kampf gegen den IS. Die Kurden haben sich als wertvolle Verbündete bewährt gegen die islamistischen Terroristen des IS – im offenen Kampf und danach auch beim Internieren der überlebenden IS-Kämpfer und deren Angehörigen.
Kurden als ewige Verlierer
Ob Assad solche Qualitäten zu würdigen weiss, ist fraglich. Die Geschichte der Kurden hat aber immer wieder deren unseliges Talent gezeigt, den Kürzeren zu ziehen. So wurde ihnen nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches 1920 in Sèvres zwar das Selbstbestimmungsrecht zugesprochen. Trotzdem bekamen sie aber nicht ihren Staat, sondern sie müssen seitdem ihr historisches Gebiet auf vier Staaten aufteilen (Türkei, Irak, Iran und Syrien), die sich alle den kurdischen Bestrebungen nach Unabhängigkeit widersetzen. Zum Teil geschieht dies mit offener Gewalt – wie in den letzten Jahren wieder in der Türkei, wo die kurdische PKK als Terror-Organisation betrachtet und verfolgt wird.
Wegen der Verbindungen zwischen der PKK und der syrisch-kurdischen Partei der demokratischen Union (PYD) ist Letztere dem türkischen Präsidenten Erdogan seit langem ein Dorn im Auge. Sein Vorstoss nach Syrien hat ganz offensichtlich die Zerschlagung der PYD zum Ziel und nicht – wie in Ankara oft erklärt – die Schaffung einer „Schutzzone“ auf der syrischen Seite der gemeinsamen Grenze, um dorthin syrische Flüchtlinge aus der Türkei zu repatriieren. Die ersten Erklärungen und Ereignisse seit Beginn des türkischen Einmarschs bestätigen dies: Hunderttausende von Kurden sind bereits aus dem Grenzgebiet vertrieben worden. Zivile Ziele wurden und werden dort angegriffen und Zivilisten – darunter auch eine populäre kurdische Politikerin – auf offener Strasse überfallen und erschossen.
US-Politik ohne Kompass
Und wieder bleibt das Ausland untätig und kommt den Kurden nicht zu Hilfe. An erster Stelle der, der die türkische Militäraktion indirekt angestossen hatte: US-Präsident Donald Trump. Dieser hatte dem türkischen Präsidenten Erdogan signalisiert – und dann auch in aller Öffentlichkeit angekündigt – dass er die US-Truppen aus Syrien abziehen wolle. Grünes Licht für Erdogan, endlich unbehindert nach Syrien einzufallen. Trump wollte nicht wissen, was da auf die Kurden zukam. Er würdigte auf äusserst schäbige Weise deren Rolle als Alliierte der USA herab („Die Kurden haben Amerika auch nicht in der Normandie geholfen“) und versuchte, seinen Rückzugsplan als grosse Wende darzustellen („Der Einmarsch von US-Truppen im Nahen Osten war der schlimmste Beschluss in der Geschichte unseres Landes“).
Für den Fall, dass Erdogan zu weit gehe, drohte er ihm Wirtschaftssanktionen an, sprach aber gleichzeitig davon, dass er den türkischen Präsidenten im November treffen werde. Wirtschaftssanktionen werden nun auch in der EU gefordert, bisher hat man sich aber nur dazu durchringen können, Waffengeschäfte mit der Türkei zu reduzieren – zu reduzieren, nicht mal einzustellen! Ausserdem „droht“ man damit, die Gespräche mit der Türkei über deren Annäherung an die EU aufzukündigen. Als ob man in der Türkei noch irgendetwas von solchen Gesprächen erwarten würde.
Flüchtlinge als Erdogans Manövriermasse
Den EU-Politikern steckt wohl die Warnung Erdogans in den Knochen: Wenn die Europäer die Türkei zu sehr kritisierten, könne er ja 3,6 Millionen Flüchtlingen die Tür nach Europa öffnen. Flüchtlinge, die in der Türkei untergekommen sind und an deren Unterhalt die EU sich zu beteiligen verpflichtet hat, solange die Türkei sie nicht nach Europa weiterreisen lässt.
Besonders makaber ist jedoch der Aspekt der NATO, denn es sind Einheiten der grössten NATO-Armee, die jetzt nach Syrien eingedrungen sind. Obwohl der Türkei von dort keine Gefahr drohte. Das könnte sich jetzt ändern: Wenn die syrische Armee und die Kurden möglicherweise auch über die Grenze hinweg in der Türkei angreifen sollten, dann könnte die NATO sich bemüssigt fühlen, den Verteidigungsfall auszurufen. Angesichts der bisherigen Entwicklung ist schwer vorstellbar, dass die NATO der Türkei „zu Hilfe eilen“ könnte, aber so manches ist und bleibt unvorstellbar. Letztlich wohl auch, dass Russland – in Syrien ohnehin militärisch präsent – durch das Vorgehen der Türkei dort noch mehr an Einfluss gewinnt. Aber nachdem der NATO-Partner Türkei seine Luftabwehr kürzlich in Moskau einkaufte, wundert dies nun auch wieder nicht.