Wie ändern sich doch die Zeiten. Vor dreissig Jahren verfolgte Ihr Korrespondent als guter Auslandschweizer die Wahl des Bundesrates noch über den Schweizerischen Kurzwellendienst, der später unter dem Namen «Swiss Radio International» firmierte und heute gerade noch als Internetauftritt unter fast gänzlichem Ausschluss der Öffentlichkeit Schweizer News verbreitet, auch auf Chinesisch. Doch damals rauschte und knirschte der Kurzwellendienst über den Äther. Die Bundesratwahl wurde in knappen, präzisen Worten wiedergegeben, eine kurze Einordnung inklusive.
Vom Satellitenradio zum Internet
2003 und 2007, den Blocherschen Schicksalsjahren, unterwegs in Myanmar respektive in Vietnam. Dank Satellitenradio war die Wahl fernab jeder technischen Zivilisation direkt aus dem Bundeshaus ohne das geringste Rauschen klar und deutlich zu hören. Und jetzt im Widmer-Schlumpfschen Schicksalsjahr das Internet.
Natürlich wäre das Berner Politereignis unschwer via Internet auf Radio SRF zu verfolgen gewesen. Als gelegentlicher SRF-Asien-Mitarbeiter jedoch wollte ich die öffentlich-rechtliche SRG nicht gratis hörend abzocken, denn schliesslich bezahle ich in Peking keine Zwangsgebühren. Das ist eben der Vorteil: Chinesinnen und Chinesen bezahlen für ihr Staatsfernsehen keine Zwangsgebühren, dafür dürfen sie sich Zwangsinhalte zu Gemüte führen. In der Schweiz hingegen gibt es – trotz Agitation mit dem Kampfausdruck „Schweizer Staatsfernsehen“, verwendet auch von Journalisten von sogenannten Qualitätsblättern – die öffentlichrechtlich verfasste SRG mit Gebühren, doch ohne vom Staat vorgegebene Zwangsinhalte.
Künstliche Spannung und Banalitäten
Was also tun am trüben, mit Feinstaub gepuderten Pekinger Wahlabend? Aufs Internet, gratis und franko, auf die Sozialen Medien, vor allem aber den vermeintlich spannenden Wahlkampf auf den Live-Tickern aller Verlagshäuser von Aarau bis Zürich. Auch das natürlich franko und gratis.
Die Live-Tickerer und Live Tickerinnen gaben sich redlich Mühe. Spannung wurde aufgebaut, herbeigeschrieben, herbeigetwittert, obwohl es langweilig war bis zum Gähnen. Der liebe Kollege Köppel tippt in seinen Laptop während der Verabschiedung von Widmer-Schlumpf. Igitt! Nationalrat Wasserfallen macht, ja was macht er? Natürlich ein Selfie im Rat. Wie originell! Ständerat Noser hat, wie viele seiner Ratskolleginnen und Kollegen, nichts anderes zu tun, als einfältige Tweets abzusondern.
Der schweizweite Stammtisch pur. Zwei Schoggi-Kügeli auf dem Pult der Ratspräsidentin Christa „Kasachstan“ Markwalder fehlen in den Live-Tickern natürlich auch nicht. Das ist Hintergrund, fürwahr. Von meinem Volksvertreter, dem ehemaligen Diplomaten Tim Guldimann, der vorgibt, die Interessen der Auslandschweizer in Bern einzubringen, kein Ton, weder auf dem Live-Ticker noch auf Twitter. Vielleicht ist das nicht einmal ein schlechtes Zeichen. Push-Meldungen erschüttern meinen iPad-Mini im Minutentakt mit Lappalien, On-dits, Trash.
Weil vor den Wahlen in der Vereinigten Bundesversammlung nicht viel los ist, machen die Live-Tickerer auf Spannung. SVP-Kandidat Parmelin im Hotel Bristol beim „leichten Frühstück“. Parmelins Frau Caroline trifft später ein und isst ein Gipfeli. Whow! SVP-Mitkandidat Thomas Aeschi, der „Ziehsohn Blochers“, tritt locker und „gelöst“ aus dem Bären. Norman Gobbi ist auch irgendwo auf dem Weg ins Bundeshaus.
Die „Nacht der langen Messer“ muss natürlich auch in den Ticker. Ein hyperventilierender Live-Tickerer berichtet vom Auftritt des vermuteten SVP-Sprengkandidaten Hurter aus Schaffhausen in der Bellevue-Bar. Überall, wo zwei oder mehrere Parlamentarier in dieser Nacht in einer Beiz einen oder auch mehrere Zweier und Halbe kippen, brodeln auf dem Netz der Netze neue Gerüchte. Hat jener FDP-Nationalrat nicht gerade einen halben Chasselas bestellt? Ein klares Indiz, dass Chasselas-Weinbauer Guy Parmelins Aktien steigen.
„Mittelmässig“, „gesellig“
Wie ich den Schweizer Qualitätsblättern schon vor der Wahl entnehmen konnte, ist der Waadtländer Weinbauer Parmelin „mittelmässig, langweilig, uninspiriert, geerdet, unauffällig, freundlich, kollegial, gesellig, ein Rätsel“. Seine mangelnden Fremdsprachenkenntnisse kann man Parmelin nicht vorwerfen, schliesslich spricht Aussenminister Didier Burhalter ja auch nicht Chinesisch, oder? Schön brachte es die Tageszeitung „Le Temps“ auf den Punkt. Bei der Anhörung vor den Fraktionen soll Parmelin folgendes gesagt haben: „I can English unterstand, but je préfère répondre en français pour être plus précis“.
Der Zuger Thomas Aeschi dagegen ist zwar „kompetent, weltoffen, mehrsprachig“ aber eben auch ein Streber und – dies vor allem – eine Kreatur von SVP-Übervater Blocher. Norman Gobbi ist zwar ein kompetenter, erfolgreicher Tessiner Staatsrat, aber den „Neger“ kann ihm niemand verzeihen, vor allem SP-Parteipräsident Christian Levrat nicht. Parmelin ist für die linken Genosssen, die ja im Gegensatz zu den chinesischen Genossen den Kapitalismus abschaffen wollen, das „geringere Übel“ des SVP-Dreiertickets.
Die Live-Tickerer winden sich bei der Wiederwahl der sechs Amtsinhaber. Keinerlei Spannung. Gott sei Dank gibt es Twitter und Facebook, wo jeder seinen Senf dazugeben kann. Dann, endlich: die Wahl. Aber Parmelin legt zur Enttäuschung der aufgeregten Online-Journalisten gleich im ersten Wahlgang mächtig vor und „macht den Sack zu“ bereits im dritten Wahlgang. „Bescheiden geniesst Parmelin den Sieg“, lässt uns ergriffen ein Live-Tickerer wissen.
„Glänzende Wahltaktik“
Am Tag danach, mittlerweile ist Peking mit einem Feinstaubindex von 12 wieder ein veritabler Luftkurort, Nachlese in den Schweizer Zeitungen. „Die Vernunft obsiegt“, betitelt NZZ-Inlandchef Zeller seinen Kommentar und fügt hinzu: „Der Wahltag ist erfreulich unspektakulär verlaufen – und das ist gut so. Im Bundeshaus ist der Courant normal eingekehrt“. Andere Kommentatoren bescheinigen der SVP eine „glänzende Wahltaktik“ und stellen fest, dass die SP „brav vom SVP-Ticket“ gewählt habe.
Der Wahlabend in Peking jedenfalls war nicht die grosse Stunde des Qualitätsjournalismus. Nicht nur auf dem Internat sondern – wenn man die Wahlen vom Oktober zum Massstab nimmt – auch an Radio und Fernsehen. Politische Events verkommen immer mehr zur Castingshow, zur Unterhaltung, selbst dann, wenn die Akteure, beispielshalber Parteipräsidenten, immer und immer wieder mehr oder weniger eloquent gegenüber handzahmen Journalistinnen und Journalisten das ewig Gleiche wiederholen.
Künstlich wird Spannung erzeugt, als ob es eine Sportveranstaltung wäre. Aber eben: Klicks und Einschaltquoten müssen her. Und zwar subito, hier und jetzt! Auf Teufel komm raus, und da scheint heute offensichtlich jedes Mittel recht. Mit Demokratie, Transparenz oder Offenheit hat das wenig, mit Showtime aber sehr viel zu tun.
„Ihr Glücklichen“
Wie aber erkläre ich meinen chinesischen Journalisten-Freunden die in Bern nun eingezogene arithmetische Konkordanz? Wie die Unterschiede zwischen FDP, SP, der SVP, den Grünen? Wie die direkte Demokratie der Schweiz? Dass der Bauer Toni Brunner, der Winzer Guy Parmelin und der Selfmade-Milliardär Blocher in der selben Partei sind, hat jedenfalls erstaunt und wird als Ausdruck echter Demokratie verstanden.
Ein langjähriger Journalistenkollege – tätig in leitender Stellung in einem Parteimedium –, der natürlich nicht namentlich zitiert werden will, hat höchste Achtung für die Demokratie im allgemeinen und für die Schweizer Variante im besonderen. In der Schweiz werde der siebenköpfige Bundesrat von unten nach oben auserkoren, in China dagegen der ebenfalls siebenköpfige „Ständige Ausschuss des Politbüros“ von oben nach unten aufgezwungen. Den sympathischen, obzwar leicht hinkenden Vergleich ergänzt der Journalist mit der Bemerkung, dass auch China „vielleicht in dreissig, vierzig Jahren“ unter der Führung der Partei aufgrund der eigenen Geschichte zu mehr Transparenz und innenpolitischer Offenheit finden werde. „Ihr Glücklichen aber“, sagte er, „habt die Wahl. Nützt das aus“.
Teilung der Macht
Dass die scheidende Bundesrätin Widmer-Schlumpf sich in vier Landessprachen verabschiedet hat, hat meine chinesischen Freunde besonders beeindruckt. Noch mehr allerdings waren sie vom Inhalt der Rede angetan, nämlich: die Teilung der Macht sei ein Schutz gegen Willkür. Und der Weg der Schweiz bestehe darin, einander zuzuhören, andere Meinungen und Minderheiten zu respektieren und schliesslich Kompromisse zu suchen. – Vielleicht hat das jetzt auch die SVP begriffen.