Seit die Personenfreizügigkeit mit der EU am 1. Juni 2002 in Kraft getreten ist, kann der Bundesrat die Einwanderung aus den EU-Staate nicht mehr beliebig beschränken. Er kann lediglich die Ventilklausel anrufen, sofern die Zuwanderung um mehr als 10% gewachsen ist gegenüber dem vorherigen Dreijahresdurchschnitt. Das trifft auf die acht EU-Staaten der Osterweiterung zu, allerdings lediglich für Jahresaufenthalter, die länger als ein Jahr in der Schweiz bleiben können. Ab dem 1. Mai 2012 werden für die Dauer eines Jahres gesamthaft bloss 2000 Jahres- bzw. B-Bewilligungen erteilt werden. Dann wird entschieden, ob die Kontingentierung um weitere zwölf Monate zu verlängern ist. Danach gilt auch für diese acht EU-Staaten die volle Freizügigkeit. Von der Beschränkung ausgenommen sind Kurzaufenthalter mit Arbeitsverträgen, die weniger als ein Jahr dauern.
Der Bundesrat ist sich bewusst, dass schätzungsweise nur etwa 4'000 Arbeitnehmer weniger aus den 8-EU-Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn in die Schweiz kommen werden als bei freier Einwanderung. Die Auswirkungen sind also bescheiden, umso mehr als zusätzliche Arbeitskräfte in der „alten“ EU rekrutiert werden könnten. Gleichwohl nimmt der Bundesrat die Proteste und die kritischen Stimmen der EU sowie der betroffenen Mitgliedstaaten in Kauf. Er will aufzeigen, dass er den geringen Spielraum nutzt, der ihm bleibt, um die Einwanderung zu steuern. Die Regierung hofft, dadurch das Vertrauen in der Bevölkerung zu stärken, damit sie ihr auch dann folgt, wenn es in den nächsten Jahren darum gehen wird, die Personenfreizügigkeit auf neue EU-Staaten auszudehnen.
Beschränkung nutzen, um Sans-Papiers zu legalisieren
Der durch die Kontingentierung gewonnene Spielraum sollte der Bundesrat dazu nutzen, um einigen Tausend Sans-Papiers, die seit Jahren in der Schweiz arbeiten, eine Arbeitsbewilligung zu erteilen. Die über 100’000 Sans-Papiers, die in der Schweiz leben, sind vor allem in Branchen beschäftigt, in denen kaum andere Arbeitskräfte gefunden werden. Manche haben schulpflichtige Kinder, viele zahlen AHV-Beiträge, sie halten sich an die geltenden Regeln, denn sie tun alles, um nicht aufzufallen. Sie erfüllen eine wirtschaftlich wichtige Funktion, und das wissen nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die kantonalen Behörden. Es ist deshalb höchste Zeit, dass die Behörden die Heuchelei beenden und damit beginnen, Menschen, die seit Jahren hier im Versteckten arbeiten, eine Arbeitsbewilligung zu erteilen. Die Härtefallregelung – um Härtefälle handelt es sich hier – sollte von vielen Kantonen etwas weniger eng ausgelegt werden, und zwar wenigsten gemäss den Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen.
Wird die längst fällige Regularisierung eines Teils der Sans-Papiers verwirklicht, verändert sich die Zahl der in der Schweiz effektiv lebenden ausländischen Bevölkerung nicht, aber die Statistik wird eine Zunahme aufweisen, weil Personen ohne Bewilligung in der Statistik gar nicht erscheinen. Schweiz sollte langfristig Zuwanderung steuern können
60 Jahre Zuwanderung haben die Schweiz geprägt
Die Zuwanderung der letzten 60 Jahre hat den Erfolg der Schweiz mitgeprägt. Infolge des Freizügigkeitsabkommens mit der EU hat die Zuwanderung in den letzten 10 Jahren erneut deutlich zugenommen. Die Wirtschaft ist rasant gewachsen, auch weil viele hochqualifizierte Menschen eingewandert sind. Die Wirtschaft der Schweiz ist derart stark, dass sie für unser Land eigentlich überdimensioniert ist. Überdies werden mit Steuervorteilen ausländische Unternehmen und Konzernsitze angelockt, und Menschen und Unternehmen werden auch von den guten Dienstleistungen und der hohen Lebensqualität angezogen.
Der Bundesrat kann heute die Zuwanderung nur noch aus den Nicht-EU-Ländern wirksam begrenzen. Der grösste Teil der Zuzüger kommt jedoch aus den EU-Staaten, und da sind dem Bundesrat die Hände gebunden. Die Ventilklausel kann bereits in wenigen Jahren nicht mehr angewandt werden. Doch über eine längere Zeitspanne betrachtet ist es bedenklich, wenn die Schweiz die Einwanderung aus dem EU-Raum nicht mehr steuern kann.
Auch die EU muss Sondersituation der Schweiz anerkennen
Zwei Gründe sprechen dafür, dass die EU die besondere Situation der Schweiz anerkennen sollte. Erstens: Die Schweiz hat mit gut 22% den weitaus höchsten Ausländeranteil der europäischen Länder mit Ausnahme der Mini-Staaten Luxemburg und Liechtenstein. Von den Nachbarn haben Österreich (10.3%) und Deutschland (8,8%) den höchsten Einwanderanteil, in den skandinavischen Ländern liegt er bei 6%. Zweitens: Als die bilateralen Abkommen ausgehandelt wurden, stagnierte die Wirtschaft; damals hatte niemand daran gedacht, dass die Schweiz sich zu einem derartigen Magnet für Zuwanderer entwickeln könnte. Dauert die Zuwanderung an, könnte der Anteil der ausländischen Bevölkerung innert der nächste Jahrzehnte auf über 25 % ansteigen.
Noch ist es nicht so weit. Doch der Bundesrat sollte in nächster Zeit eine günstige Gelegenheit packen, um Brüssel auf die besondere Situation der Schweiz aufmerksam zu machen. Ohne Zeitdruck könnte man der EU aufzeigen, dass es bei einem Ausländerbestand von über einem Viertel schwierig werden könnte, die freie Einwanderung fortzuführen. Würde gemeinsam ein Höchstgrenze von beispielsweise 25% festgelegt, ab welcher der Bundesrat ermächtigt wäre, die Einwanderung vorübergehend zu begrenzen, gäbe das der Schweiz eine gewisse Sicherheit und Gelassenheit. Gut möglich, dass eine solche Ausnahmeregelung nie in Kraft gesetzt werden müsste. Ein solcher Vorschlag bedeutet kein Nein zur Personenfreizügigkeit, sondern sie würde längerfristig abgesichert. Er würde der selbständigen Schweiz, die der EU nicht angehört, den notwendigen Handlungsspielraum wahren.